Nachricht | Parteien- / Bewegungsgeschichte - Erinnerungspolitik / Antifaschismus - Deutsche / Europäische Geschichte - Europa - Gesellschaftstheorie Clara Zetkin – die erste Analytikerin des Faschismus

Der Historiker Jörn Schütrumpf rekonstruiert den historisch-politischen Kontext der bemerkenswerten Faschismus-Rede Clara Zetkins und diskutiert ihre wichtigsten Erkenntnisse.

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Clara Zetkin und Nadeschda Krupskaja, die Lebensgefährtin Wladimir Lenins, ca. 1927. Foto: Wikimedia Commons

Vor 100 Jahren, am 20. Juni 1923, hielt Clara Zetkin vor dem Erweiterten Plenum des Exekutivkomitees der Kommunistischen Internationale (EKKI) eine "bemerkenswert differenzierte Rede" (Wolfgang Wippermann) über den Aufstieg des Faschismus in Italien und Deutschland. Der Historiker Jörn Schütrumpf rekonstruiert den historisch-politischen Kontext der Rede und diskutiert Zetkins wichtigste Erkenntnisse.

Wer über die erste Analyse des italienischen Faschismus reden will – sie wurde vor einhundert Jahren, am 20. Juni 1923, von Clara Zetkin (1857-1933) vorgelegt –, der sollte nicht über die italienische Linke und ihre blinden Flecken schweigen. Denn nicht nur im Krieg, auch in der Geschichtsschreibung ist das, was als erstes stirbt, oft die Wahrheit.

Jörn Schütrumpf leitete bis 2022 die Fokusstelle Rosa Luxemburg bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Berlin.

Selbst bei Lucio Magri, dem großen demokratischen Linken Italiens, wird der Beginn der kommunistischen Bewegung in seiner Heimat auf die Gründung der PCI, der Kommunistischen Partei, im Jahre 1921 (zurück-)datiert.[1] Und, das sei ohne jeden Hintergedanken eingeräumt: Der Intellektuelle Magri handelte dabei völlig lauter. Er, der 1969 zusammen mit Ikonen der heutigen Linken wie Rossana Rossanda, Valentino Parlato und Luciana Castellina wegen ihrer Sympathien[2]für den Prager Frühling aus der PCI ausgeschlossen worden war, ist der Fälschung völlig unverdächtig. Hier zeigt sich lediglich, wie auch seriöse Verfasser hinter der bestehenden Geschichtsschreibung die eigentliche Geschichte nicht zu erkennen vermögen.

Denn nicht etwa die Gründung der PCI markiert in Italien den Beginn der kommunistischen Bewegung, sondern der Beitritt der Sozialistischen Partei Italiens zur Kommunistischen Internationale zwei Jahre zuvor.

Vorgeschichte: Die Spaltung der italienischen Linken

Das Ganze hat eine längere Vorgeschichte, die zugleich Bestandteil der Vorgeschichte des italienischen Faschismus ist. 1907 hatten die europäischen und außereuropäischen Parteien, die sich in der «Sozialistischen Internationale» (auch «Zweite Internationale» genannt) zusammengeschlossen hatten, bei ihrem Kongress in Stuttgart beschlossen, im Fall eines Krieges alles zu unternehmen, um das Gemetzel so schnell wie möglich zu beenden. Während in Deutschland die SPD – so wie die sozialistischen Parteien in fast allen anderen kriegführenden Staaten – diesen Beschluss verriet, war die Sozialistische Partei Italiens die einzige mitgliederstarke Partei in der Zweiten Internationale, die während des Ersten Weltkrieges den Beschluss von 1907 umsetzte und die Zustimmung zur Kriegsteilnahme konsequent verweigerte.

Der Schweizer Robert Grimm, Redakteur der in Bern erscheinenden sozialdemokratischen «Tagwacht», und Angelica Balabanoff,[3] die wichtigste Führerin der italienischen Sozialisten – 1919 war sie kurze Zeit erster «Sekretär» der Kommunistischen Internationale –, sorgten im September 1915 in Zimmerwald in der neutralen Schweiz dafür, dass erstmals nach Kriegsbeginn die breit gefächerte europäische Linke miteinander reden konnte: von Lenin, der die Umwandlung des Weltkriegs in einen Weltbürgerkrieg verlangte, bis hin zu Pazifisten aus Deutschland und Frankreich, die keineswegs bereit waren, den einen Krieg durch einen anderen Krieg abzulösen, sondern die diesen, wie 1907 beschlossen, lediglich so schnell wie möglich beenden wollten.

Zwischen beiden Positionen stand die 1892 gegründete italienische Partei. Auf einem Parteitag im Jahre 1912 hatte die Parteibasis die reformistische Gründergeneration um Filippo Turati von der Führung abgewählt. Seitdem wurde diese Partei von der revolutionären Linken um Giacinto Menotti Serrati, Angelica Balabanoff und – bis Kriegbeginn – auch vom späteren Faschistenführer Benito Mussolini geführt.

Nicht zuletzt auf Grund dieser Erfahrung glaubten Rosa Luxemburg, Clara Zetkin und ihre Anhänger, dass es auch in Deutschland möglich sei, die Sozialdemokratie auf Gleise zu bringen, die es der Partei in einer revolutionären Situation – nach nüchterner Analyse selbstverständlich – ermöglichen würde, die jeweils nächsten, die Revolution vertiefenden Schritte zu erkennen und sie den in Bewegung gekommenen Massen vorzuschlagen.

So hatte die französische Revolution von 1789 funktioniert – dort hatte allerdings nicht eine Partei als Stichwortgeber gedient: Mit zunehmender Radikalisierung war die geistige Führung von Mitte-rechts nach links außen gewandert.

Als Anfang März 1919 in Moskau die Bolschewiki die Dritte bzw. die Kommunistische Internationale gründeten, war die Sozialistische Partei Italiens (SPI) dieser neuen Weltorganisation sofort beigetreten. An der Gründung der Kommunistischen Internationale hatte sich die SPI mangels Möglichkeit nicht beteiligen können – wie auch sonst keine andere ausländische Partei.

Der einzige ausländische Delegierte mit einem ordentlichen Mandat für den Gründungskongress war der deutsche Hugo Eberlein aus dem thüringischen Saalfeld – er hatte von der kurz zuvor, am 15. Januar 1919, ermordeten Rosa Luxemburg allerdings ein gebundenes Mandat erhalten. Es lautete, die Gründung der Kommunistischen Internationale in jedem Fall abzulehnen.

Die Polin Rosa Luxemburg und ihre Freunde hatten sich zwischen 1906 und 1912 der russischen Sozialdemokratie angeschlossen. Die bestand aus Lenins Bolschewiki, aus Julius Martows Menschewiki sowie aus vielen Unabhängigen wie Leo Trotzki und Anatoli Lunatscharski. Speziell Rosa Luxemburgs Erfahrungen mit Lenin ließen sie befürchten, dass die Bolschewiki mit einer neuen Internationale versuchen könnten, die ausländischen Parteien zu spalten, um sich deren «Willige» zu unterwerfen.

Wie sich in Italien zeigen sollte, waren Rosa Luxemburgs Befürchtungen mehr als berechtigt. Noch vor der Gründung der Kommunistischen Internationale im März 1919 hatten die Bolschewiki zwei Provokateure, ausgestattet mit Dokumenten und viel Geld, nach Triest geschickt, um die verschiedenen Fraktionen innerhalb der italienischen Sozialisten gegeneinander aufzuhetzen. Angelica Balabanoff erinnerte sich später:

Ich war sehr besorgt und ging zu Lenin […]. Zu meinem Erstaunen (dies geschah vor der Gründung der Kommunistischen Internationale, man fing damals gerade erst an, die Methoden der Bolschewiki in der internationalen Bewegung anzuwenden) sah ich, dass Lenin sich weder überrascht noch empört zeigte: Eher schien er über meinen Einspruch […] verärgert. «Um Turatis Partei zu zerstören», sagte er zornig, «sind auch diese gut genug.»

Wenige Wochen später kamen aus Italien heftige Proteste: «Die Kerle hatten nichts weiter getan als allgemeine Empörung hervorzurufen, indem sie ungeheure Summen in Luxuslokalen und Bordellen ausgaben.»[4] Dieser erste Angriff auf die italienischen Sozialisten war damit gescheitert.

Weiter ging es im Sommer 1920 in Moskau. Das Präsidium des 2. Kongresses der Kommunistischen Internationale bestand aus Lenin und Karl Radek, beides Bolschewiki und einstige Gegenspieler der revolutionär-demokratischen Sozialistin Rosa Luxemburg, sowie den Führungsfiguren der italienischen und deutschen Linken, Serrati und Paul Levi, beide auch nach der Ermordung Rosa Luxemburgs im Geiste immer noch ihre Verbündeten und damit Gegner der Leninschen Spaltungs- und Dominanzpolitik.

Hinter den Kulissen des 2. Kongresses der Kommunistischen Internationale gerieten beide Seiten aneinander, und zwar heftig. Im veröffentlichten Protokoll findet sich davon natürlich nichts. Wilhelm Pieck, der spätere Präsident der DDR (er war nicht der klügste, aber der überlebensfähigste Mitbegründer der KPD), hat 1921 – nach dem Hinauswurf Paul Levis aus der Kommunistischen Internationale – darüber in deren Zeitschrift in aller Umschuld berichtet. Damals funktionierte die Zensur noch nicht lückenlos…

Nach dem 2. Kongress der Kommunistischen Internationale machten die Bolschewiki allerdings ernst: Sie suchten einige italienische Linke sehr unterschiedlichen Zuschnitts zusammen: die Gruppe um den Ökonomen Antonio Graziadei[5] samt der Anhängerschaft von Nicola Bombacci, Antonio Gramsci, Amadeo Bordiga und Egidio Gennari. Diese italienischen Linken ließen die Bolschewiki im Herbst 1920 innerhalb der SPI eine kommunistische Fraktion gründen – mit dem Ziel, auf dem nächsten Parteitag, der im Januar 1921 in Livorno stattfand, eine Mehrheit hinter sich zu bekommen.

Das misslang gründlich. Trotzdem ließen die Bolschewiki die kommunistische Fraktion in eine eigene – weitgehend einflusslos bleibende – kommunistische Partei umwandeln. Von ihnen ist heute in intellektuellen Zirkeln nur noch Antonio Gramsci präsent. Der Rest der Sozialistischen Partei zerfiel in mehrere Gruppen. Lenin hatte sein Ziel erreicht, Turatis Partei zu zerstören.

Mussolini als Nutznießer der Spaltung

Der eigentliche Nutznießer der Zerstörung der sozialistischen Arbeiterbewegung in Italien war jedoch Benito Mussolini. Mussolini, Chefredakteur der Zeitung der italienischen Sozialisten «Avanti!», hatte sich im Herbst 1914 vom französischen Geheimdienst kaufen lassen.

Der Vermittler des französischen Geheimdienstes war der Sozialist Marcel Cachin, der im Dezember 1920 die Kommunistische Partei Frankreichs mitgegründet hatte. Bis zu seinem Tod 1958 war der Spezi des französischen Geheimdienstes einer der treuesten Anhänger der Bolschewiki. Mit einer entsprechend hohen Summe brachte er Mussolini dazu, eine eigene Zeitung, «Popolo d’Italia», zu gründen. In ihr wurde im weitgehend kriegsunwilligen Italien für einen Eintritt Italiens in den Ersten Weltkrieg, und zwar an der Seite Frankreichs und Großbritanniens, geworben.

Die Franzosen, die in Italien natürlich auch an anderen Stellschrauben drehten, hatten ihr Geld gut investiert: Am 23. Mai 1915 trat Italien – trotz des Bündnisses mit Österreich-Ungarn und Deutschland – an der Seite der Entente in den Weltkrieg ein – und gewann ihn; jedoch ohne viel Gewinn.

Womit die Franzosen allerdings nicht gerechnet hatten, war, dass Mussolini nach dem Kriege eine eigene Bewegung ins Leben rufen würde, mit der er seine einstigen Genossen aus der Arbeiterbewegung zu bekämpfen gedachte: die «Fasci di combattimento».

Nachdem die Bolschewiki die sozialistische Bewegung in Italien gespalten hatten, breitete sich Mussolinis faschistische Bewegung über ganz Italien aus. Zählte man im Februar 1921 noch rund tausend Faschisten, so erreichte ihre Zahl 1922 bereits über 300.000. Mussolinis Schlägertrupps sprengten Arbeiterversammlungen, zündeten Arbeiterheime an und ermordeten gezielt sozialistische Führer aller Ebenen.

Der italienische Staat, der alles andere als böse über diese Entwicklung war, schaute weg. Großgrundbesitzer und Industrielle ließen sich nicht lumpen, während die in verschiedene Gruppen zerfallende italienische Arbeiterbewegung Stück für Stück aufgerieben wurde.

Vom 27. bis 31. Oktober 1922 ließ Mussolini dann den sogenannten Marsch auf Rom veranstalten, in dessen Ergebnis die weltweit erste faschistische Diktatur errichtet wurde. Im Ausland wurde das Ganze, auch in der Linken, als eine «klassische» Konterrevolution, wie sie beispielsweise in Ungarn unter Admiral Miklós Horthy an die Macht gelangt war, betrachtet.

Clara Zetkins Faschismus-Analyse

Nur eine Frau scherte aus: Clara Zetkin, die Begründerin der internationalen sozialistischen Frauenbewegung.

Clara Zetkin war in der Kommunistischen Internationale – außerhalb Sowjet-Russlands – das einzige ebenso bekannte wie vorzeigbare Gesicht. Nicht zuletzt deshalb besaß sie in den ersten Jahren der Kommunistischen Internationale einigen Einfluss.

Sie war als junge Frau in Leipzig nicht nur zur Französisch- und Englischlehrerin ausgebildet worden, sondern auch zur Italienischlehrerin. In den ersten Monaten der Herrschaft Mussolinis war die Presse noch nicht gleichgeschaltet, und so ließ sich die damals schon Schwerkranke in ihr Haus in Sillenbuch bei Stuttgart alle erreichbare italienische Presse liefern.

Schnell begriff die Politikerin, dass sich hier etwas noch nie Dagewesenes abspielte. Die bisherigen Maßstäbe versagten.

Clara Zetkin bedrängte die Bolschewiki, auf einer Sitzung des Erweiterten Exekutivkomitees der Kommunistischen Internationale (EKKI) im Juni 1923 ihre Faschismus-Analyse vorzutragen – obwohl ihr klar war, dass es nur geringe Chancen gab, dass die Bolschewiki Gedanken annahmen, die nicht von ihnen selbst stammten. Schon 1921 hatte sie an Paul Levi geschrieben: «Unsere Moskauer haben […] noch nicht gelernt, dass die eigene Faust zwar oft genug unentbehrlich ist, aber im Westen seit dem Ablauf des Mittelalters den Leuten nicht mehr ins Gesicht geschlagen werden darf, sondern [man], hübsch in einen Samthandschuh gesteckt, ihnen um den Bart streichen muss.»[6]

Clara Zetkins älterer Sohn, ein Arzt, war zwar gegen den Ausflug nach Moskau, wusste aber, dass Widerstand zwecklos sein würde, und begleitete deshalb die Kranke. In Moskau angekommen, ließ sich Clara Zetkin am 20. Juni 1923 in den Sitzungssaal hineintragen. Da sie nicht stehen konnte, hielt sie als erste und einzige Person in der Geschichte der Kommunistischen Internationale ihr Referat im Sitzen.

Natürlich wusste Clara Zetkin um die Katastrophenpolitik, die die Bolschewiki in Italien getrieben hatten. Doch das Kind lag schon im Brunnen. Jetzt konnte es nur noch darum gehen, dass nicht weitere Kinder folgten.

Der erste Unterschied zur klassischen Konterrevolution, den Clara Zetkin herausarbeitete, war: «… der Träger des Faschismus ist nicht eine kleine Kaste, sondern es sind breite, soziale Schichten, große Massen, die selbst bis in das Proletariat hineinreichen.» Das, was in Westeuropa die sozialistische Bewegung so erfolgreich gemacht hatte – die Vision von einer besseren Welt –, hatten die Faschisten verstanden, in einem scheinrevolutionären Programm zu präsentieren.

Weil Italien nicht aus der Nachkriegskrise herauskam, wandten sich ihm Massen aus sehr unterschiedlichen Schichten zu. Der Faschismus wurde «ein Asyl für politisch Obdachlose, für sozial Entwurzelte, für Existenzlose und Enttäuschte,» meinte Zetkin. «Nur wenn wir verstehen, dass der Faschismus eine zündende, mitreißende Wirkung auf breite soziale Massen ausübt, die die frühere Existenzsicherheit und damit häufig den Glauben an die Ordnung von heute schon verloren haben, werden wir ihn bekämpfen können.»

Für Clara Zetkin lag es «auf der Hand, dass der Faschismus in den einzelnen Ländern verschiedene Charakterzüge trägt, je nach den vorliegenden konkreten Verhältnissen. Jedoch zwei Wesenszüge sind ihm in allen Ländern eigen: ein scheinrevolutionäres Programm, das außerordentlich geschickt an die Stimmungen, Interessen und Forderungen breitester sozialer Massen anknüpft, dazu die Anwendung des brutalsten, gewalttätigsten Terrors.»

Während die Bolschewiki Politik militärisch und polizeilich sowohl dachten als auch praktizierten, setzte Clara Zetkin beim Kampf gegen den Faschismus auf einen Ansatz, den niemand so konsequent verfolgt hatte wie einst Rosa Luxemburg:

Wir werden ihn nicht auf militärischem Wege allein überwinden – um diesen Ausdruck zu gebrauchen –, wir müssen ihn auch politisch und ideologisch niederringen. […] Wir müssen mit größter Energie den Kampf aufnehmen nicht nur um die Seelen der Proletarier, die dem Faschismus verfallen sind, sondern auch um die Seelen der Klein- und Mittelbürger, der Kleinbauern, Intellektuellen, kurz, all der Schichten, die heute durch ihre wirtschaftliche und soziale Stellung in wachsenden Gegensatz zum Großkapitalismus kommen…

Antonio Gramsci nannte das später Kampf um die Hegemonie. Clara Zetkin fährt fort:

Der Faschismus fragt nicht, ob der Arbeiter im Betriebe eine weiß-blau bayerisch angestrichene Seele hat, für die schwarz-rot-goldene Bourgeois-Republik oder für das rote Banner mit Sichel und Hammer schwärmt, ob er die Rückkehr der Wittelsbacher wünscht, sich für Ebert begeistert oder lieber unseren Freund Brandler als Präsidenten der deutschen Sowjetrepublik sehen möchte. Ihm genügt, dass er einen klassenbewussten Proletarier vor sich hat, und den schlägt er nieder. Deshalb müssen sich die Arbeiter ohne Unterschied der Partei und der Gewerkschaftsorganisation zum Kampfe zusammenfinden.

Und zwar, wie Zetkin das nennt, zu einer «Proletarischen Einheitsfront», also dem Gegenteil der üblichen Spaltungspolitik der Bolschewiki.

Clara Zetkin hatte als jüngere Frau noch mit Friedrich Engels verkehrt, damals schon ein alter Herr. Engels hatte gern darüber gesprochen, dass organisierte Massen «Gewalthaufen» darstellen, gegen die mit militärischer Gewalt nur wenig auszurichten sei. Diesen Gedanken nahm Clara Zetkin hier wieder auf:

Wir dürfen den Faschismus nicht nach dem Muster der Reformisten in Italien bekämpfen, die ihn anflehten: «Tu mir nichts, ich tue dir auch nichts! » Nein! Gewalt gegen Gewalt! Nicht etwa Gewalt als individueller Terror – das bliebe erfolglos. Aber Gewalt als die Macht des revolutionären, organisierten, proletarischen Klassenkampfes.

Hatten die Bolschewiki als Hauptadressaten ihrer Politik stets die Arbeiterschaft und die in Russland übermächtige Bauernschaft gesehen, so zog Zetkin den Kreis größer: Statt der Spaltung war für sie der erste Schritt die proletarische Einheitsfront. Aber dabei blieb sie nicht stehen: «Wir müssen danach trachten, dass wir die sozialen Schichten, die jetzt dem Faschismus verfallen, entweder unserem Kampfe eingliedern oder sie zum mindesten für den Kampf neutralisieren. […] Ich lege dem die allergrößte Bedeutung bei, dass wir mit allem Zielbewusstsein, mit aller Konsequenz den ideologischen und politischen Kampf um die Seelen der Angehörigen dieser Schichten aufnehmen, die bürgerliche Intelligenz mit einbegriffen.»

Clara Zetkin erhielt für ihre Rede lang anhaltenden Beifall. Auf die Tätigkeit der Kommunistischen Internationale hatte dieses Referat jedoch keine Auswirkungen. Nichts von dem, was Zetkin vorgeschlagen hatte, wurde umgesetzt.

Ab 1928 verfolgten die Bolschewiki sogar das genaue Gegenteil: Nicht die Faschisten wurden als die gefährlichsten Gegner angesehen, sondern die «Sozialfaschisten» – damit waren die Sozialdemokraten gemeint. Statt Kampf um die Seelen der nichtproletarischen Schichten lautete die Losung: «Klasse gegen Klasse!»

Clara Zetkin hat noch erlebt, wie 1933 in Deutschland dem Nationalsozialismus zur Macht verholfen wurde. Sie selbst floh nach Moskau, wo sie am 20. Juni 1933 starb.

Das letzte Wort soll an Angelica Balabanoff gehen. Sie berichtete im Jahre 1920 über den von den Bolschewiki aufgebauten Nikola Bombacci:

Bei einer Sitzung der Tagung der Internationale wurden die Anwesenden aufgefordert, in ein Album, das irgendeiner Jubiläumsfeier gewidmet war, etwas über Lenin einzuschreiben. Was Bombaccischrieb, war so albern und zeugte von so krasser Unkenntnis des Sozialismus, dass Lenin, als ich ihn auf diesen Beitrag aufmerksam machte, wütend aufschrie: «Sprechen Sie mir nicht von diesem idiotischen Analphabeten.»

1933 wechselte Bombacci die Seiten und wurde der engste Vertraute von Benito Mussolini. Ein Foto, das ins europäische Bildgedächtnis eingegangen ist, zeigt eine Tankstelle in Mailand, an der, kopfunter, vier Menschen hängen: Mussolini und seine Freundin Clara Petacci. Der eine der beiden anderen Männer ist Nikola Bombacci – von den Bolschewiki lange Zeit als der Führer der italienischen Kommunisten gepriesen.


[1] Vgl. Lucio Magri: Der Schneider von Ulm. Eine mögliche Geschichte der KPI, Hamburg 2015.

[2] Rossana Rossanda (1924-1920) verstand sich als Marxistin in der Tradition Rosa Luxemburgs, Valentino Parlato (1931-2017) war in den 1960er Jahren einer der führenden Funktionäre der PCI, und Luciana Castellina (Jg. 1929) war bis zu ihrem Ausschluss eine der führenden Journalistinnen der PCI, seit 2016 ist sie in der «Sinistra Italiana» aktiv.

[3] Die aus dem ukrainischen Großbürgertum stammende Angelica Balabanoff (1869-1965) brach 1921 mit den immer mehr ihre Macht einem sozialistischen Ziel vorziehenden Bolschewiki und ging erneut ins Exil.

[4] Angelica Balabanoff: Lenin oder: Der Zweck heiligt die Mittel, 2., korrigierte Auflage, Berlin 2018, S. 73.

[5] Graf Antonio Graziadei, genannt Antonio (1873-1953), wurde 1928 aus der PCI ausgeschlossen.

[6] Clara Zetkin an Paul Levi, 10. Januar 1921.