Publikation Deutsche / Europäische Geschichte - Geschichte Also doch «hineingeschlittert»?

Anmerkungen zur aktuellen Debatte über die Ursachen des Ersten Weltkrieges und deren geschichtspolitischen Implikationen.

Information

Reihe

Journal «RosaLux»

Autor

Salvador Oberhaus,

Erschienen

März 2014

* hierbei handelt es sich um die ungekürzte Fassung meines in ROSALUX 1/14 erschienen Artikels «Gezielte Eskalation»


Die Fragen nach den Ursachen und Verantwortlichkeiten für den Ausbruch des Ersten Weltkrieges werden im Grunde genommen schon seit August 1914 kontrovers diskutiert. Die Antworten fallen je nach Sprechort, politischem Standpunkt und Betroffenheit von den Ereignissen diametral aus – damals wie heute. Gleichwohl hatte sich in den 1930er Jahren die Auffassung des britischen Kriegs-Premier David Lloyd Georgs als Allgemeinplatz etabliert, der gemäß die Staatsmänner der Großmächte in den Krieg „hineingeschlittert“ seien. Laut gängiger Lesart war also niemand so richtig für des Ausbruch des Ersten Weltkrieges verantwortlich. Fritz Fischer und seinen Schülern gelang es, diese These nachhaltig zu erschüttern und eine deutsche Hauptverantwortung für den Krieg nachzuweisen. Seither sind rund fünfzig Jahre vergangen und zahllose Studien zum Ersten Weltkrieg und der Rolle des Deutschen Reiches erschienen.

Ein Blick zurück: Im Kaiserreich und der Weimarer Republik herrschte quer durch alle Schichten breiter Konsens darüber, dass Deutschland einen ihm aufgezwungenen „Verteidigungskrieg“ geführt habe. Auch in den anderen am Krieg beteiligten Staaten war man sich einig in der Gewissheit, sich nur verteidigt zu haben. Kaum eine andere Frage bewegte die Deutschen seit Herbst 1918 so sehr wie die Kriegsschuldfrage. Die politische Brisanz der Frage war mit Händen greifbar. Gemäß des Versaillers Vertrages vom Juni 1919 waren „Deutschland und seine Verbündeten als Urheber aller Verluste und Schäden verantwortlich“ zu machen, die im Krieg entstanden waren. Der Vertrag wurde als Demütigung empfunden. Politik, Diplomatie und Wissenschaft arbeiteten intensiv, vielleicht auch verzweifelt, an der Wiederlegung dieser „Kriegsschuldlüge“. Die offiziellen Akteneditionen zum Kriegsausbruch geben hierfür ein beredtes Beispiel.

In wichtigen Fragen besteht inzwischen ein breit getragener Konsens in der Geschichtswissenschaft, der unter Bezugnahme auf die von Fritz Fischer ausgelöste Kontroverse der 1960er Jahre bisweilen polemisch als „Fischer Light“ bezeichnet wird. Hierzu gehört zunächst die keineswegs banale Feststellung, dass dem Ersten Weltkrieg ein Ursachengeflecht zugrunde liegt, das plausibel nur in einer europäisch vergleichenden Perspektive aufgelöst werden kann. Monokausale Erklärungsansätze werden der komplexen, in den Krieg führenden Melange aus politischen, militärischen und sozioökonomischen Erwägungen bzw. Entwicklungen sowie sozialpsychologischen Momenten nicht gerecht. Dass Österreich-Ungarn und das Deutsche Reich aufgrund ihrer Eskalationspolitik gemeinsam die Hauptverantwortung für den Kriegsausbruch tragen, ist – von wenigen Ausnahmen abgesehen – in der Forschung ebenso anerkannt, wie eine Mitverantwortung der Regierungen in Sankt Petersburg, London und Paris.

Weitgehend Einigkeit besteht in der Einschätzung, dass der Kriegsausbruch eine wenn auch nicht zwangsläufige Konsequenz des Hochimperialismus und der sich hieraus zwischen den Großmächten seit etwa 1900 verschärfenden Konflikten ist. Der Kriegsausbruch wird in diesem Kontext auch als eine Folge der an Spannung zunehmenden Mächterivalität (Österreich-Ungarn, Serbien, Russland) auf dem Balkan interpretiert, welche die Friedensfähigkeit zwischenstaatlicher Bündnissysteme und den Friedenswillen der europäischen Großmächte zunehmend unterminierten.

Im Sommer 1914 war keine europäische Regierung ernsthaft bereit, den sich abzeichnenden neuerlichen Krieg auf dem Balkan zu verhindern. Ein Krieg, der das Potential zum Flächenbrand während der Juli-Krise hatte deutlich werden lassen. Die Gründe hierfür sind vielfältig. Besonders die Zweibundmächte nahmen einen großen Krieg als Mittel der Politik nicht nur in Kauf, sie provozierten ihn bewusst: Österreich-Ungarn etwa, das ein für alle Mal mit dem irredentistischen Nachbarn Serbien „aufräumen“ wollte, indem es Belgrad ein unannehmbares Ultimatum im Zusammenhang mit der Aufklärung des Attentats vom 28. Juni stellte. Das kaiserliche Deutschland trug erheblich zur Eskalation des Konfliktes durch seine als Nibelungentreue apostrophierte bedingungslose Unterstützung („Blankoscheck“) des Zweibundpartners sowie durch eine diplomatische Risiko-Strategie der Auslotung der Kriegsbereitschaft der Entente-Mächte besonders Russlands bei. Gerd Krumeich bezeichnet die auf „Lokalisierung“ des zu erwartenden militärischen Konfliktes zwischen der Donaumonarchie und Serbien abzielende deutsche Krisenpolitik gegenüber den Entente-Mächten treffend als Erpressungsversuch. Europa ist weder in den Krieg „hineingeschlittert“, noch geschlafwandelt. Ein allgemeiner Krieg wurde von den handelnden Akteuren einkalkuliert. Allerdings wichen die Vorstellungen vom kommenden Krieg erheblich von der sich einstellenden Kriegsrealität ab – in allen beteiligten Staaten.

Bedeutsam für die deutsche Entscheidung zum Krieg im Juli 1914 war eine unter den militärischen, politischen und gesellschaftlichen Eliten weit verbreitete Zukunftsangst um den bisher anerkannten Status als Großmacht. Man wird diese wohl überwiegend auf autosuggestive Prozesse im Kontext außen- und innenpolitischer Entwicklungen zurückführen können. Für das Deutsche Reich bot sich die Gelegenheit, die selbst verursachte internationale Isolierung zu durchbrechen und in einem militärstrategisch noch günstig scheinenden Augenblick den erreichten Status zu konsolidieren und, trotz des Fehlens eines konkreten „weltpolitischen“ Entwurfes, doch noch zur Weltmacht aufzusteigen, anstatt sich dauerhaft mit dem Status einer saturierten kontinentalen Großmacht zufrieden geben zu müssen. Zuletzt genanntes Motiv gewann allerdings erst im Rahmen der Kriegszieldiskussion in den Wochen nach Kriegsbeginn an Bedeutung. Die weitergehenden Thesen, die Fritz Fischer und seine Schüler seit den 1960er Jahren ausformulierten, denen gemäß Deutschlands Handeln von einer kohärenten imperialistischen Strategie geleitet worden sei, die auf die Auslösung eines allgemeinen Krieges im Sommer 1914 orientierte, wurden längst vielfältig und überzeugend widerlegt, ohne die Politik Berlins in der Juli-Krise zu exkulpieren oder den aggressiven imperialistischen Charakter der deutschen Außenpolitik in der Ära Wilhelm II. in Abrede zu stellen. Die Argumentation von Christopher Clark schließt hier in vielen Punkten an, weicht aber gerade hinsichtlich der Einschätzung der Politik der Mittelmächte erheblich von der vorherrschenden Forschungsmeinung ab.

Es ist ein Verdienst seines zurzeit viel diskutieren aber noch zu wenig kritisch reflektierten aktuellen Buches Die Schlafwandler. Wie Europa in den Ersten Weltkrieg zog, die bisher nur schwer zu durchdringenden Prozesse von Meinungsbildung und Entscheidungsfindung in den Hauptstädten Europas während der Juli-Krise in einer vergleichenden Perspektive minutiös und leicht verständlich nachvollziehbar zu machen. Clarks Erkenntnisinteresse richtet sich allerdings weniger auf die Kriegsursachen als vielmehr auf die Frage, wie es im Sommer 1914 zum Kriegsausbruch kam. Dieser Ansatz verleitet ihn dazu, den Auslöser des Kriegs als dessen Ursache zu interpretieren. Clark will sich folgerichtig nicht zur Schuld- bzw. Verantwortungsfrage positionieren. Er geht vielmehr davon aus, dass die von ihm hinsichtlich ihrer politischen und mentalen Dispositionen untersuchten europäischen Staatsmänner in den Krieg schlafwandelten, sich der Tragweite ihres Handels nicht voll bewusst waren. Indem er vermeidlich subtil Sympathien lenkt und an zentralen Stellen Thesen konstruiert und anachronistisch argumentiert, wo Quellenbelege für seine Beweisführung fehlen, zeichnet Clark allerdings ein Szenario, in welchem Serbien, Russland und Frankreich als Hauptverantwortliche für den Krieg erscheinen. Dabei erinnert seine Argumentation bedenklich an die „Schuldabwehrpropaganda“ in der Weimarer Republik.

Der Konstruktionscharakter wird besonders bei Clarks These von den „balkanischen Ursprüngen“ (Lothar Machtan) des Krieges deutlich. Demgemäß hätten Russland und Frankreich bewusst auf die Auslösung eines europäischen Krieges hingearbeitet und den Krisenherd Balkan hierfür ein weiteres Mal eskalieren wollen. Für die Politik Österreich-Ungarns während der Juli-Krise vermag Clark hingegen Verständnis aufzubringen. Die Rolle Berlins in der Krise, und hier muss sich Clark Beliebigkeit vorwerfen lassen, wird nur am Rande thematisiert und damit bagatellisiert. Das kaiserliche Deutschland kommt in Clarks Analyse nicht nur zu kurz, sondern auch erstaunlich gut davon. Clark urteilt Milde über die Unzulänglichkeiten der deutschen Entscheidungsträger. Clarks „Schlafwandler-Metapher“ schließt hier verblüffend unmittelbar an die „Schlitter-These“ Lloyd Georges an als hätte es die letzten Jahrzehnte Weltkriegsforschung nicht gegeben.

Dass sich sein Buch besonders in der Bundesrepublik hoher Verkaufszahlen erfreut, nimmt vor diesem Hintergrund kaum Wunder. Lothar Machtan spricht treffend von dem Bedürfnis einer „geschichtspolitischen Entlastung“ der Deutschen, das Clark bedient. Und es scheint nur noch eine Frage der Zeit zu sein, wann Clark auch geschichtspolitisch in Stellung gebracht wird. Clarks Thesen sind anschlussfähig an eine Argumentation, die den Ersten Weltkrieg als eine Art Betriebsunfall in der vermeidlich teleologischen Entwicklung einer per se friedensfördernden bürgerlich-demokratischen Gesellschaft kapitalistischer Prägung als Fines Historiae interpretiert, als Ende der Geschichte. Die Zeit von 1914 bis 1945/89 wird als temporäre Unterbrechung dieser kontinuierlichen Entwicklung gedeutet. Damit geht eine Delegitimierung alternativer – sozialistischer – Lebens- und Gesellschaftsentwürfe einher, der es entgegenzuwirken gilt.

Last not Least können Clarks Thesen als Legitimationshilfen für militärische Konfliktinterventionen im Ausland gelesen werden, wenn es vorgeblich gilt, ein zweites Sarajewo in Afghanistan, Syrien, Mali oder wo auch immer auf der Welt zu verhindern. Dass Deutschland mehr Verantwortung für den Erhalt des Friedens in der Welt übernehmen möchte, in diese Richtung weisen die aktuellen Verlautbarungen des Bundespräsidenten und der Verteidigungsministerin.

Trotz dieser nicht unerheblichen Mängel und Probleme ist Clarks Studie insgesamt eine anregende und lohnenswerte Lektüre, die gleichwohl die volle kritische Aufmerksamkeit der Leser/innen erfordert.

Aktuelle Literatur zum Thema:

Christopher Clark, Die Schlafwandler. Wie Europa in den Ersten Weltkrieg zog, München 2013.

Lothar Machtan, Rezension von: Christopher Clark, Die Schlafwandler. Wie Europa in den Ersten Weltkrieg zog, München 2013, in: sehepunkte 14 (2014), Nr. 1 [15.01.2014].

Gerd Krumeich, Juli 1914. Eine Bilanz. Mit einen Anhang: 50 Schlüsseldokumente zum Kriegsausbruch, Paderborn, München, Wien