Publikation Erinnerungspolitik / Antifaschismus Notbremse und Eingedenken. Geschichtspolitische Impulse der Geschichtsphilosophischen Thesen Walter Benjamins

Tagungsbericht: „Vom Ende der Geschichte her. Geschichtspolitische Überlegungen anlässlich des 75. Todestages von Walter Benjamin“, Mainz, 23.–24. Oktober 2015 von David Adler

Information

Herausgeber*innen

Sebastian Frech,

Erschienen

Januar 2016

 Von David Adler

Notbremse und Eingedenken. Geschichtspolitische Impulse der Geschichtsphilosophischen Thesen Walter Benjamins

 

Das Denken Walter Benjamins (1892–1940) ist ein wichtiger Bezugspunkt linker Geschichtspolitik. Seine Kritik hegemonialer Formen der Geschichtsschreibung wird sowohl in der kritischen Wissenschaft als auch in politischen Bewegungen aufgenommen. Trotz solcher vielseitigen Bezüge steht eine Erhellung der Bedeutung Benjamins für zeitgenössische geschichtspolitische Interventionen noch aus. Geschichtspolitik hat sich an den vorherrschenden Formen der wissenschaftlichen Historiographie ebenso abzuarbeiten, wie an den zu Denkmälern und Zeremonien geronnenen populären Geschichtsbildern. Häufig verbleibt die Benjamin-Forschung jedoch in geistesgeschichtlichen akademischen Diskussionen, die der Radikalität des Denkens Benjamin unangemessen bleiben. Hier setzte ein Symposium ein, das am 23. und 24. Oktober 2015 in Mainz stattgefunden hat und das von der Rosa Luxemburg Stiftung Rheinland-Pfalz in Kooperation mit dem Institut Français Mainz organisiert wurde. Die Konzeption der Tagung entwickelte Thomas Schröder in Zusammenarbeit mit Salvador Oberhaus. An zwei Tagen wurde unter dem Titel „Vom Ende der Geschichte her. Geschichtspolitische Überlegungen anlässlich des 75. Todestages von Walter Benjamin“ über Benjamins Geschichtsphilosophie und deren geschichtspolitische Bedeutung diskutiert. Dabei wurde der Begriff der Geschichtspolitik zunächst als eine Radikalisierung der Geschichtsphilosophie verstanden, um einer rein geistesgeschichtlichen Auslegung Benjamins entgegenzuwirken. Ausgangspunkt für die Tagung war, wie Schröder in seinen einführenden Bemerkungen zur Konzeption der Tagung darlegte, ein hegelianisches Verständnis des Begriffs vom Ende der Geschichte. Dieses kennzeichnete Schröder als den seit etwa 200 Jahren herrschenden Zustand eines „Grau in Grau“ des entfremdeten Lebens. Ein solches entfremdetes Leben dürfe jedoch nicht umstandslos mit leidendem Leben gleichgesetzt werden. Stattdessen könne Entfremdung auch in einen zweiten Naturzustand übergehen, in dem den Individuen in ihrer Selbstreproduktion auch qualitativ neue Möglichkeiten zukommen – etwa in der Kunst oder aber auch der Warenwelt. Zugleich sei aber im Begriff des Endes der Geschichte sowohl die Drohung eines katastrophischen Endes, der Vernichtung, als auch die Möglichkeit der Überwindung geschichtlichen Leidens mitzudenken. Gemeinsamer Bezugspunkt für alle Beiträge waren die Geschichtsphilosophischen Thesen[1], der kurze Text Benjamins, der zum ersten Mal 1942 in einem Sonderheft der Zeitschrift für Sozialforschung veröffentlicht wurde, nachdem Benjamin sich 1940 auf der Flucht vor den Nationalsozialisten das Leben genommen hatte. Diese Auswahl hat sich als besonders hilfreich erwiesen, da durch den Text ein gemeinsamer Fokus hergestellt wurde, sich von ihm ausgehend darüber hinaus aber auch ein weiterer Teil des Werkes Benjamins erschließen ließ.

Der folgende Bericht orientiert sich nicht vorrangig an den einzelnen Vorträgen in ihrer Abfolge. Vielmehr wird das in den Vorträgen und den Diskussionen Geäußerte entlang inhaltlich übergreifender Aspekte neu zusammengestellt. Ein erster Abschnitt thematisiert die Vorgeschichte der Geschichtsphilosophischen Thesen und ihre Stellung in Benjamins Werk. Anschließend werden mit dem Begriff des Fortschritts und dem Historismus zwei zentrale Themen der Thesen besprochen. Ausgehend von der Radikalisierung Benjamins, die in den 1930er Jahre ausgemacht werden kann, wird dann sein Konzept der Revolution und seine Forderung eines „wirklichen Ausnahmezustands“ untersucht. In einem Abschnitt zum Verhältnis von Irrationalität und Rationalität bei Benjamin wird deutlich gemacht, dass Benjamin sich trotz seines großen Interesses für reaktionäre Denker*innen in seinen Zielen und Schlussfolgerungen klar von Autor*innen wie Carl Schmitt oder auch Carl Gustav Jung unterscheidet. Weiter wird das Motiv des Eingedenkens bei Benjamin thematisiert und dessen Implikationen für einen geschichtspolitischen Umgang mit den Opfern der Geschichte heute herausgestellt. In einem letzten Abschnitt schlage ich ausgehend von den geschichtspolitischen Impulsen der Beiträge drei Thesen vor, wie die Diskussionen der Tagung auch für geschichtspolitische Interventionen in die öffentliche Diskussion nutzbar gemacht werden können.

 

1. Die lange Geschichte der Geschichtsphilosophischen Thesen

 

In seiner Eröffnung und einem vertiefenden Vortrag zur Editionsgeschichte problematisierte Gérard Raulet[2], welcher Status den „Thesen“[3] überhaupt zukommt. Raulet machte deutlich, dass die Thesen sich nicht als ein singulärer und abgeschlossener Text verstehen lassen. Vielmehr sind sie Zwischenergebnis fortwährender Reflexionen, die Benjamins Schriften bereits seit Jahren begleiteten. Raulet widersprach damit der gängigen und durch einen Brief Gershom Scholems geförderten Meinung, dass die Thesen vor allem eine Reaktion auf den Hitler-Stalin Pakt und den Kriegsbeginn seien. Die lange Vorgeschichte der Thesen, für die Raulet das Jahr 1934 und die Arbeit Benjamins über den Historiker und Sozialdemokraten Eduard Fuchs[4] als maßgeblich ansah, wurden sehr anschaulich auch durch die Beiträge Gregor Wedekinds und Frank Voigts verdeutlicht.

Wedekind[5] trug aus kunstgeschichtlicher Perspektive mit einem Vortrag zum „Angelus Novus“ zum Verständnis des Engelsmotivs bei Benjamin bei. In der IX. These nimmt Benjamin auf das Bild „Angelus Novus“ von Paul Klee Bezug, bevor er das Motiv des „Engels der Geschichte“ einführt. Ihn beschreibt Benjamin als mit dem „Antlitz der Vergangenheit zugewendet. Wo eine Kette von Begebenheiten vor uns erscheint, da sieht er eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße schleudert. Er möchte wohl verweilen, die Toten wecken und das Zerschlagene wieder zusammenfügen.“ Dieser Engel wird aber unablässig weiter in die Zukunft getragen und mit immer neuem Leiden konfrontiert.

Wedekind hob hervor, dass das Bild „Angelus Novus“ von Klee, trotz des direkten Bezugs in der IX. These, nicht als ein punktuell herangezogenes Modell für Benjamins Engel der Geschichte verstanden werden sollte. Das Bild habe Benjamin bereits seit zwanzig Jahren begleitet und so sein Konzept des Engels über lange Zeit geprägt. Die Verbindung vom Engel der Geschichte und dem „Angelus Novus“ ist trotz der direkten Nennung eine vermittelte. Eine deutliche Spur dieser Vermittlung ist der Vers aus dem Gedicht „Gruß vom Angelus“ von Gershom Scholem, den Benjamin der IX. These vorangestellt hat. Benjamin hatte das Bild 1921 in München erworben und zunächst Scholem zur Verwahrung überlassen. Aus dieser Abwesenheit des Bildes heraus übersandte Scholem Benjamin seinen „Gruß vom Angelus“. Scholem hat Benjamins Verständnis dieses Engels (und anderer) etwa dadurch geprägt, dass er es mit dem Konzept des Engels als Schutzfigur aus der jüdischen Mystik verbunden hat. Wedekind sprach vor diesem Hintergrund davon, dass das Bild Klees in ein „generalisiertes Denkbild“ eingegangen sei, das im „Engel der Geschichte“ aufgerufen werde.

Frank Voigt[6] wiederum verdeutlichte die lange Vorgeschichte der Thesen mit seinen Ausführungen zu Benjamins Analyse der Zeitschrift „Die Neue Zeit“ Mitte der 1930er Jahre. „Die Neue Zeit“ (1883–1923) war eine Zeitschrift, in der grundsätzliche Diskussionen zur Gesellschaftsanalyse, aber auch zur Kulturtheorie und -politik der SPD geführt wurden. In dieser Zeitschrift publizierten Autoren wie Paul Lafargue, Rosa Luxemburg, Franz Mehring, aber auch Leo Trotzki. Die Sozialdemokratie war damals also noch nicht eindeutig vom Marxismus geschieden. Dies schlägt sich auch in der Kritik der Sozialdemokratie in den Geschichtsphilosophischen Thesen nieder, bei der auffällt, dass Benjamin nicht von einer klaren Trennung von reformistischer Sozialdemokratie einerseits und von Marxist*innen andererseits ausgeht. In der Auseinandersetzung mit der „Neuen Zeit“ entwickelt Benjamin seine Kritik des Fortschrittsglaubens der Sozialdemokratie, aber auch seine Kritik der historistischen Geschichtsschreibung.

  

2. Fortschritt und Historismus

 

Damit sind zwei Themen angesprochen, die zentral für die Geschichtsphilosophischen Thesen sind: die Kritik der sozialdemokratischen Fortschrittsideologie und – in einer gewissen Komplizenschaft mit dieser – die der historistischen Geschichtsschreibung. Benjamin formuliert in Hinblick auf die Sozialdemokratie und ihr Verhältnis zum Faschismus, „daß der sture Fortschrittsglaube dieser Politiker, ihr Vertrauen in ihre ‚Massenbasis‘ und schließlich ihre servile Einordnung in einen unkontrollierbaren Apparat drei Seiten derselben Sache gewesen sind“ (X. These). Das Fortschrittskonzept der Sozialdemokratie hat also, folgt man Benjamin, ganz wesentlich den Aufstieg des Faschismus begünstigt. War das Konzept eines technologisch garantierten Fortschritts nach dem Ersten Weltkrieg als eine Zuversicht spendende Motivationstheorie bedeutend geworden, wie Marcus Hawel[7] in seinem Beitrag zum Konzept der Revolution erklärte, zeigt Benjamin, wie es dem Gegenteil in die Hände spielt: einer Selbstüberschätzung und Passivität. In dem Vertrauen auf die Massenbasis verkannte die Sozialdemokratie die Gefahr des Faschismus. Das Bewusstsein des anonym und unaufhaltsam sich vollziehenden Fortschritts war ein Surrogat politischer Handlung und die Vorstellung, sich diesem Prozess nur anhängen zu müssen, sich von ihm tragen lassen zu können, förderte einen Konformismus, der sich dann auch anderen vermeintlichen Schicksalsmächten unterzuordnen bereit war. „Es gibt nichts, was die deutsche Arbeiterschaft in dem Grade korrumpiert hat, wie die Meinung, sie schwimme mit dem Strom“, formuliert Benjamin in der XI. These.

Diese Vorstellung des Fortschritts sieht Benjamin in der Vorstellung einer „homogene[n] und leere[n] Zeit“ begründet, die auf geschichtswissenschaftlicher Ebene auch dem Historismus zugrunde liegt. Der Historismus fasst Geschichte als Kontinuität auf, in die Ereignisse in ihrer Abfolge eingeschrieben sind. Er versucht von der Jetztzeit zu abstrahieren und, so Benjamin kritisch, sich in die Vergangenheit „einzufühlen“. Diese Einfühlung ist aber nach Benjamin immer eine Einfühlung in die Sieger der Geschichte. Dies liegt daran, dass der Prozess der Überlieferung in einem durch Herrschaft gezeichneten Raum stattfindet. Selbst die höchsten Kulturgüter tragen für Benjamin noch etwas Barbarisches in sich, da sie nur durch den „namenlosen Fron“ jener bestehen, die in der Geschichtsschreibung, die sich an den kulturellen Errungenschaften orientiert, unsichtbar bleiben müssen.

In Vielem sind diese Überlegungen, so hat Frank Voigt anschaulich gezeigt, schon in Benjamins Fuchs-Aufsatz (siehe Fn. 4) vorweggenommen. Die Auseinandersetzung mit der „Neuen Zeit“, die Voigt in den Blick nimmt, ist aber auch noch auf einer anderen Ebene für die Kritik des Historismus relevant. Benjamin kritisiert den Historismus nicht nur, er entwickelt auch eine Methode, mit der er sich einen anderen Zugang zur Geschichte verspricht. Benjamin spricht von einer Konstellation, in die die Vergangenheit mit der Gegenwart tritt. Der historischen Rekonstruktion setzt er das konstruktive Prinzip des historischen Materialismus entgegen, dessen Bezugspunkt immer die Jetztzeit ist (XVII. und XVIII. These). Benjamin hat bereits in der Auseinandersetzung mit der „Neuen Zeit“ versucht, experimentell eine Analysetechnik zu entwickeln, die von der Zusammenstellung von Konvoluten zu verschiedenen Themen ausgeht, wie sie dann besonders für das Passagen-Werk[8] bekannt geworden ist. Voigt berichtete hier von einem Brief Benjamins an Max Horkheimer, in dem dieser das Projekt gerade auch als methodische Neuerung beschreibt, in der es darum gehe, eine materialistische Analyse zu erproben. Benjamin war bei seinen Exzerpten und Anmerkungen besonders darum bemüht, Kontroversen festzuhalten, an denen sich Diskussionen entsponnen haben. Das Material sollte dabei nicht einfach für ein singuläres Projekt gesammelt werden, sondern sich für mehrere Arbeiten nutzen lassen – in unterschiedliche Konstellationen gebracht werden können, wenn man so will. Raulet wies in diesem Zusammenhang darauf hin, dass Benjamin Exzerpte aus älteren Projekten zum Teil in neue Arbeiten übernahm und sie neu ordnete. Darum, so Raulet, lasse sich die Arbeit an der Fuchs-Arbeit gar nicht klar von der Passagen-Arbeit abgrenzen. Für die Geschichtsphilosophischen Thesen verstärkt das noch einmal, in welchen Maß der Text mit anderen Arbeiten Benjamins verbunden ist.

  

3. Benjamins Radikalisierung

 

Trotz dieser Vorgeschichte, darauf wies Raulet hin, lassen sich die Thesen auch als ein Ausdruck der Radikalisierung Benjamins lesen. Entgegen der Einheitsfront, die sich 1934 in Paris gegen die Faschisten gebildet hatte, war Benjamin immer weniger zu Kompromissen bereit. Benjamin war zunehmend hoffnungslos und resigniert. Dies schlägt sich, wie Raulet darlegte, etwa darin nieder, dass in der zweiten Fassung des Exposés „Paris, die Hauptstadt des XIX. Jahrhunderts“ Auguste Blanqui eine bedeutende Rolle zugestanden wird. Dieser französische Sozialist hatte mit „L’Éternité par les astres“ und der darin vorkommenden Lehre der ewigen Wiederholung seine Erfahrung mit der Niederschlagung der Pariser Kommune 1871 verarbeitet. Die zu überwindenden Verhältnisse erscheinen als ein undurchdringbarer Kreis. In den Geschichtsphilosophischen Thesen findet sich ein solches Motiv in dem zur Regel gewordenen Ausnahmezustand wieder. Diese schlechte Normalität lässt sich nur noch durch eine radikale Unterbrechung der Geschichte, durch einen gewaltsamen Bruch aufhalten, durch die Herbeiführung des „wirklichen Ausnahmezustands“ (VIII. These).

Die Benjaminsche Vorstellung des Bruchs und auch die Frage der Kompromisslosigkeit vertiefte Marcus Hawel in seinem Vortrag „Revolution? (Un-)wägbarkeiten der Geschichtsphilosophie zwischen Fluch und Erlösung“. Hawel problematisierte Benjamins Verständnis der Revolution vor dem Hintergrund der marxistischen Theoriedebatte. Während die Revolution bei Marx dem geschichtlichen Fortschritt zum Durchbruch verhilft, benutzt Benjamin das Bild einer „Notbremse“, mit dem die laufende Maschine gerade angehalten werden muss. Gegenüber dem konstruktiven Revolutionsbegriff bei Marx – für den sich aus der Revolution eine neue Ordnung ergibt – und der (gescheiterten) marxistische Motivationstheorie des Fortschritts setzt Benjamin, laut Hawel, einen „dekonstruktiven Revolutionsbegriff“. Hawel würdigte diesen Begriff, da er dem passiv machenden Revolutionsbegriff, der auf eine objektive revolutionäre Situation setzt, etwas entgegenhält. Ein solcher Revolutionsbegriff, so zeigte Hawel, schreibt letztlich wieder dem Kapital die Rolle des Subjekts historischer Vernunft zu, weil er dazu verdammt, auf die durch das Kapital geschaffene revolutionäre Situation zu warten.

Zugleich kritisierte Hawel aber auch das Kompromisslose des Revolutionskonzeptes Benjamins. Wenn auch aus der historischen Situation verständlich, falle Benjamin hiermit letztlich hinter die Einsicht der historischen Bedingtheit auch der Kritik der Verhältnisse selbst zurück. Benjamin verstehe die Revolution als Erzeugung einer tabula rasa, oder wie Richard Faber eindrücklich formulierte, als „großen Rabatz“. Hier sieht Hawel einen deutlichen Unterschied zu Theodor W. Adorno, der die Vorstellung der tabula rasa kritisiert habe. Für Adorno droht einem Revolutionsdenken, das sich von den konkreten geschichtlichen Voraussetzungen völlig losmachen zu können glaubt, letztlich, genau in diesen Verfangen zu bleiben – darum insistiert er auf der Bedeutung der bestimmten Negation. Aber auch bei Marx fand Hawel – trotz der Feststellung Étienne Balibars, dass es für diesen keinen „Mittelweg“ gäbe[9] – Ansätze für die Anerkennung der Bedingtheit der Revolution, wenn er im „18. Brumaire“ etwa erklärt, dass der Mensch die Welt zwar mache, aber dies nicht aus freien Stücken[10]. In dieser Einsicht sieht Hawel die Bedeutung der Ideologiekritik und der immanenten Kritik in der marxistischen Tradition begründet.

Richard Faber[11] problematisierte ein solches unbedingtes Verständnis der Revolution noch durch eine andere Kontextualisierung in seinem Beitrag „Walter Benjamins Thesen in Geschichte und Gegenwart“. Auch er sieht Benjamins Position an die historische Situation gebunden und weist darauf hin, dass der Einfluss Benjamins nach 1968 kritisch zu reflektieren sei. Zum einen seien viele Bedingungen einer Revolution, die Benjamin noch mehr oder weniger voraussetzen konnte, heute nicht mehr denkbar. So sei der Klassenkampf als Ausgangspunkt der Philosophie ebenso brüchig geworden, wie Klassen ihre politische Selbstverständlichkeit verloren haben. Eine Permanenz der revolutionären Situation, die Benjamin forciert, könne heute nur noch als „irre“ erscheinen. Auf diese Bedingungen hoffte Benjamin aber noch für die Entfesselungen der destruktiven Energien des theologisch gestärkten historischen Materialismus setzen zu können. Ein solcher destruktiver Politikbegriff sollte mit der Normalität des Ausnahmezustandes, der sich die Unterdrückten ausgesetzt sehen, brechen. Aus der Situation Benjamins heraus sei dieser Politikbegriff durchaus nachvollziehbar, war es doch angesichts des Sieges des Nationalsozialismus und des ausbleibenden Widerstandes der Arbeiter*innen darum gegangen, politische Handlungsfähigkeit in einer aussichtslosen Situation zu ermöglichen. Hier wies Faber auf die politische sowie theologische Bedeutung Fritz Liebs für Benjamin im Pariser Exil hin. Faber kritisierte aber, dass Benjamin einen destruktiven Politikbegriff verabsolutiere. Nach der Niederschlagung des Nationalsozialismus und des Faschismus sei ein solcher unangemessen, weil er keine abwägende Situationsbeschreibung mehr ermögliche. Auch wies Faber darauf hin, dass, vor dem Hintergrund Benjamins Pessimismus, das als permanent gedachte revolutionäre Potenzial schon bei ihm selbst recht abstrakt und phantastisch wirke. Eine Einschätzung, die sich mit der Raulets deckt, dass der Engel der Geschichte bei Benjamin nur eine sehr entfernte Hoffnung auf Rettung habe.

Benjamin habe, so Faber, nicht die Niederlage des Nationalsozialismus absehen können, noch habe er den Befreiungsnationalismus und die antikoloniale Bewegung gekannt. Eine weitere Erfahrung, die zwischen die heutige Situation und den Blick Benjamins tritt, sei, laut Faber, der Umschlag des politischen Aufbruchs der 1960er Jahre in den RAF-Terror. Vor diesem Hintergrund erscheint Benjamins Bewertung der Gewalt in einem anderen Licht. Hier spielt der Einfluss des russischen Nihilismus, wie er etwa im positiven Bezug auf Sergei Gennadijewitsch Netschajew zum Ausdruck kommt, eine bedeutende Rolle. Benjamins u. a. aus ihm sich speisende Hoffnung auf die Entfesselung der destruktiven Kräfte des Erlösungsgedankens problematisierte Faber ebenso, wie die Sexualisierung der Gewalt, die sich etwa in der XVI. These manifestiert, wenn Benjamin der „Hure ‚Es war einmal‘ im Bordell des Historismus“ gegenüberstellt, man müsse „Manns genug“ sein, „das Kontinuum der Geschichte aufzusprengen“.

  

4. Die rationale Durchdringung des Irrationalen

 

In diesem Zusammenhang wurde auch wiederholt auf die Bezüge Benjamins zur Konservativen Revolution und zu reaktionären Denker*innen eingegangen. Dabei bestand große Einigkeit darüber, dass Benjamin zwar ein großes Interesse an diesen Denker*innen gehabt hat, dass ein wesentlicher Unterschied zu diesen jedoch in den Zielen und Schlussfolgerungen bestand.

Ein solcher Unterschied wurde deutlich durch den Vortrag Thomas Schröders[12], der die Geschichtsphilosophischen Thesen vor dem Hintergrund der Psychoanalyse thematisierte. Trotz des Interesses an Carl Gustav Jung habe Benjamin an der aufklärerischen Tradition der Psychoanalyse festgehalten. Benjamin hatte großes Interesse am Irrationalen und Archaischen, das Jung in den Blick genommen hat, wollte dies jedoch letztlich rational begreifen. Schröder zeigte die Überschneidungen von Sigmund Freuds letztem Text „Der Mann Moses und die monotheistische Religion“[13] zu Benjamins späten Überlegungen auf. Da Benjamin selbst diesen Text nicht mehr gekannt habe, nehme eine wichtige Vermittlungsfunktion der Text „Psychoanalyse und Telepathie“[14] ein, den Benjamin gelesen hat. Freud stellte in diesem Text die Gefahr der irrationalistischen Lehren des Okkultismus heraus. Zugleich glaubt er, dass sich ein Teil der irrational beschriebenen Phänomene eines Tages rational erklären lassen werden. Hierfür nennt Freud die Telepathie als ein Beispiel und vergleicht diese mit dem Telefon. Inspiriert haben Benjamin diese Überlegungen für seine Konzeption der Sprache und des Archivs. Anders als Jung gehe es Benjamin hierbei eben nicht um eine mystische Form des kollektiven Gedächtnisses. Vielmehr gehe es ihm um die Aufdeckung der rationalen Struktur kultureller Erzeugnisse und ihre impliziten Verweisungen. Spuren dessen finden sich in Benjamins Ausführungen zur Sprache und Mimesis[15] und schließlich aber auch in den Geschichtsphilosophischen Thesen, wenn Benjamin von der Konstellation spricht, in die die Gegenwart mit der Vergangenheit tritt und aus der sich „plötzlich“ und als „Chok“ eine historische Erkenntnis auftut (XVII. und XVIII. These).

Einen solchen Verweisungszusammenhang kann man in den Parallelen der Situationen sehen, aus denen Freud seinen „Mann Moses“ und Benjamin die Thesen geschrieben haben. Oben wurde bereits die Radikalisierung Benjamins beschrieben, die mit seiner zunehmenden Desillusionierung einherging. Schröder stellte heraus, dass „Der Mann Moses und die monotheistische Religion“ in einer ähnlichen Situation persönlicher Ausweglosigkeit verfasst wurde – auch wenn diese Arbeit ebenso wie Benjamins Geschichtsphilosophische Thesen auf längere Vorarbeiten zurückgeht. Neben dem Zustand Europas Ende der 1930er Jahre kam bei Freud noch das Bewusstsein seines baldigen krankheitsbedingten Todes hinzu. Interessant ist, dass beide, Freud und Benjamin, angesichts dieser Situation um eine Integration einer religiösen Dimension bemüht sind. Beiden gehe es dabei aber, das betonte Schröder, nicht um eine religiöse Wendung. Die Indienstnahme der Theologie[16], von der Benjamin in der I. Thesen spreche, sei eben kein Verfall ins Irrationale, sondern der Versuch diese Kraft rational durchdringbar zu machen.

Eine weitere interessante Parallele ergibt sich zu dem, was Wedekind weiter zur Rolle der Engelsbilder bei Paul Klee ausführte. Auch für Klee betonte Wedekind, dass die Engel keine Zeichen einer religiösen Wendung seien. Vielmehr seien Engel bei Klee Mischwesen, die eine menschliche Grundeigenschaft zum Ausdruck brächten, die sich besonders in der Künstler*in verkörpere: dem Streben nach Höherem und seinem fortwährendem Scheitern. Die Engel bei Klee seien keine überhöhten Boten einer Transzendenz. Sie seien vielmehr immer noch nicht von ihrer menschlichen Form emanzipierte, noch nicht voll entwickelte Wesen, denen es misslingt, sich zu übersteigen. Wedekind stellte heraus, dass die Engel bei Klee Künstlergrotesken seien, in deren Thematisierung des Höheren etwas Religiöses nur säkularisiert, als Moment der Kunst selbst, in Erscheinung trete. Aber auch der merkwürdig versetzte Blick des „Angelus Novus“, der oft thematisiert worden ist, verweist auf eine weitere Parallele. Entstanden ist das Bild Klees nämlich wiederum in einer Zeit der Resignation. Wedekind führte aus, dass Klee sich 1918 für die Münchener Räterepublik einsetzte. Nach deren Niederschlagung musste Klee ins Schweizer Exil flüchten. Klee verlor hier alle Hoffnung auf eine reale Verbesserung der menschlichen Verhältnisse. Er malte eine Reihe von Selbstporträts, die sich durch eine Distanziertheit des Blicks auszeichnen, die einen Widerhall im Blick des „Angelus Novus“ finden. Bei Benjamin ist der Blick des Engels der Geschichte, der Vergangenheit zugewandt, in der er die Trümmer und das Leiden sich aufhäufen sieht, während er weiter in die Zukunft getrieben wird, unfähig beim einzelnen Leiden zu verweilen. Damit ist, neben der Unterbrechung des linearen Verlaufs, des Fortschreitens, der Geschichte, ein zweites für Benjamin in den Thesen wesentliches Konzept angesprochen: das Eingedenken.

  

5. Das Eingedenken

 

Bereits in seinem Einführungsvortrag hat Raulet darauf hingewiesen, dass das Konzept des Messianischen, mit dem Benjamin den historischen Materialismus anreichern will, in zwei unterschiedliche, ja vielleicht widersprüchliche Momente zerfällt: ein apokalyptisches und ein rituelles. Entsprechend seines Plädoyers, die Thesen nicht als abgeschlossenen Text zu verstehen, finden für ihn hier verschiedene Denkbewegungen einen vorläufigen Zusammenhalt. Benjamin sei bemüht gewesen, unterschiedliche Aspekte zusammenzudenken und aufeinander zu beziehen, ohne dass eine Auflösung der Spannungen zwischen den Konzepten gelungen sei.

Das, was als ein apokalyptischer Messianismus bezeichnet werden kann, hat enge Bezüge zu dem, was im Abschnitt 3 über die Revolution und die Herstellung des wirklichen Ausnahmezustands gesagt worden ist. Faber hat dabei darauf bestanden, dass die apokalyptischen Motive bei Benjamin nicht einfach jüdischen Traditionslinien zugerechnet werden können. Auch Raulet meinte, man dürfe das Judentum Benjamins nicht überschätzen und sprach von einem „angelernten Judentum“. Das Judentum sei bei Benjamin ein Denkmittel neben anderen. Faber machte wiederholt auch auf die christlichen Bezüge Benjamins aufmerksam, gerade auch bei den apokalyptischen Motiven.

Als zweites Moment macht Raulet ein rituelles Verständnis des Messianismus aus, dessen zentraler Begriff der des Eingedenkens sei. Entgegen einer Orientierung an der Zukunft, wie sie dem Begriff des Fortschritts eingeprägt ist, kommt es hier bei jedem Schritt darauf an, auf die Opfer zu schauen, die wir hinter uns lassen.

Diesen Aspekt der Geschichtsphilosophischen Thesen führte insbesondere Caroline Heinrich[17] in ihrem Vortrag „Über den Anspruch der Vergangenheit und das Recht auf Gegenwart“ aus. Heinrich grenzte hier Benjamin geschichtsphilosophisch gegen Hegel und Marx ab. Sowohl für Hegel als auch für Marx ist die Geschichte ein Prozess der Verwirklichung der Vernunft. Zwar nehme Hegel das individuelle Leiden in der Geschichte wahr, es spiele für ihn aber weltgeschichtlich keine Rolle. Heinrich sprach in diesem Zusammenhang von einer Negation des Individuellen. Für Hegel seien es die „großen Männer“, die die Geschichte vorantreiben. Während für Hegel dieser geschichtliche Prozess mit der bürgerlichen Gesellschaft abgeschossen wird, ist für Marx der Endzweck der Geschichte, die Erlangung gesellschaftlicher Freiheit, noch nicht erreicht. Problematisch sei, dass diese Freiheit Marx zufolge erst durch die vollständige Befreiung von der Vergangenheit verwirklicht werden könne.

Bei Hegel werde das vergangene Leiden als ein Moment zur Realisierung der Gegenwart legitimiert, indem die Vergangenheit in der Gegenwart aufgehoben sei. Bei Marx werde wiederum das gegenwärtige Leiden für den Fortschritt gerechtfertigt. Das gegenwärtige Leiden erscheine bei ihm als ein notwendiger Durchgangspunkt für eine zukünftige Befreiung. Benjamin gehe hier, mit seinem Verständnis der Revolution als „Notbremse“, einen radikal anderen Weg. Er sei darum bemüht, der Gegenwart gegen den Anspruch der Zukunft zu ihrem Recht zu verhelfen. Damit wende er sich gegen die Idee des Fortschritts, die sowohl bei Hegel als auch bei Marx der Einhegung des Leidens zugrunde liege. Ganz wesentlich für Benjamin sei dabei der veränderte Status, der so den Opfern der Geschichte zukomme. Diese gingen nicht in einer Gegenwart auf, noch in einer zukünftigen Erlösung. Ihr Leiden wirke vielmehr als Unabgegoltenes und Uneingelöstes, durch das die Vergangenheit eine explosive Kraft für die Gegenwart gewinne. Der Anspruch des Unabgegoltenen ist nach Heinrich eine nicht leicht zu handhabende Forderung, vielleicht sogar eine Überforderung. Das Geschehene könne von uns nicht ohne Weiteres abgegolten werden. Auch wenn Heinrich das Eingedenken stark machte, war ihr Ziel dabei nicht seine Veralltäglichung. Eingedenken, so stellte sie fest, könne letztlich immer nur punktuell sein und bedeute einen Bruch mit der alltäglichen Praxis.

Wiederholt wurde vor diesem Hintergrund diskutiert, wie Eingedenken und politische Aktionen und Interventionen zueinander stehen. Schon in seinem Eingangsvortrag stellte Raulet fest, dass der Engelsblick, der bei jedem Schritt auf die Opfer schaut, uns letztlich nicht mehr lehren kann, als dass es diese Opfer gibt. Heinrich führte in Auseinandersetzung mit den Bemerkungen Hawels zum Begriff der Revolution aus, dass im Augenblick der Aktion ein Eingedenken letztlich nicht möglich sei. Das Eingedenken sei immer an ein Moment der Kontemplation und damit an die Unterbrechung von Praxis gebunden.

Anhand einer Gedenktafel in Trier zeigte Heinrich auf, wie in der etablierten Gedenkkultur das Leiden der Opfer zu etwas Abstraktem wird. Anstatt eines Textes, der die Deportation der Trierer Juden im Nationalsozialismus zu einem anonymen Ereignis macht, stellte Heinrich einen alternativen Text vor, der Opfer und Täter sichtbar macht, der den Zeitraum der Deportationen – und damit Möglichkeiten des Wissens und Handelns – verdeutlicht und der einen expliziten Bezug zum Jetzt herstellt, indem der heutigen Scham über die damaligen Taten Ausdruck verliehen wird.

 

6. Fazit und Ausblick

 

Der Tagung „Vom Ende der Geschichte her“ ist es gelungen, die Grundlagen der Benjaminschen Geschichtsphilosophie ausgehend von den Geschichtsphilosophischen Thesen herauszuarbeiten. Dabei wurden sowohl zeitgeschichtliche als auch geistesgeschichtliche Zusammenhänge aufgearbeitet. Bezüge zur heutigen politischen Diskussion wurden in den einzelnen Beiträgen immer wieder gesucht. In diesem Sinne wurde die geschichtsphilosophische Auseinandersetzung mit Benjamin zugunsten einer geschichtspolitischen – verstanden als Radikalisierung jener – realisiert. Der Anspruch einer geschichtspolitischen Reflexion kann jedoch über diese Radikalisierung hinaus auch den Blick auf die Frage richten, welche Bedeutung Benjamin für zeitgenössische emanzipatorische Auseinandersetzungen um und Interventionen in Geschichte zukommt. Dem möchte ich abschließend nachgehen. Dafür soll an den in den Vorträgen ausgeführten geschichtspolitischen Überlegungen angeknüpft werden.

Die Gegenwartsbeschreibungen, die sich verstreut in nahezu allen Beiträgen fanden, lassen sich zusammentragen und auf ihre Bedeutung für die Einsichten Benjamins für heute befragen. Dass Benjamins Denken von der veränderten politischen Situation nicht untangiert bleibt, haben Hawel und Faber explizit herausgestellt. Faber hat, wie bereits erwähnt, neben der Niederschlagung des Nationalsozialismus auf den Niedergang der Arbeiterklasse, auf den Befreiungsnationalismus, die antikoloniale Bewegung sowie auf die Erfahrung des Deutschen Herbstes hingewiesen. Auch hat er mit Verweis auf die Freundschaft Benjamins mit dem Theologen Fritz Lieb auf die Möglichkeit hingewiesen, die Benjaminschen Thesen als philosophische Unterstützung der aufkeimenden Résistance zu verstehen, die sich einer scheinbar aussichtslosen politischen Situation gegenüber sah. Der hegelscher Begriff vom Ende der Geschichte, so Schröder, verlange, sich die Ambivalenz dieses Zustandes bewusst zu machen, in dem sich glückliche Erfüllung und verhängnisvolle Katastrophe als politische Figurationen eines Endspiels widerstritten. Raulet sah für die heutige Situation das Motiv des Eingedenkens als eine Alternative zur Überhöhung des Ausnahmezustands. Der Engel der Geschichte blicke heute auf die Trümmer der Arbeiterbewegung zurück und sehe sich dem scheinbar unzweifelhaften Sieg des Kapitals gegenüber. Getrieben sei der Engel der Geschichte dabei von der Globalisierung und einer zunehmenden Kriminalisierung von Arbeiter*innenwiderstand. Heinrich machte in ihrer Auseinandersetzung mit der Gedenkkultur deutlich, dass es heute stark institutionalisierte Formen des Gedenkens gibt, die der Vergangenheit letztlich ihre Provokation, ihr sprengendes Potenzial nehmen. Heinrich wies in Zusammenhang mit Benjamins Kritik des Fortschrittsdenkens zudem darauf hin, dass die Vorstellung eines universellen Fortschritts heute nur noch wenig verbreitet sei, wie z. B. Jean-François Lyotard mit dem „Ende der legitimierenden Erzählungen“ deutlich mache. Hier warf wiederum Raulet die Frage auf, wie unter diesen Bedingungen noch Solidarität und kollektives politisches Handeln möglich seien – oder ob Geschichte tatsächlich in ein Nebeneinander von Punktuellem aufgelöst werde. Frank Voigt plädierte seinerseits dafür, der Frage nach Benjamins Aktualität eine reflexive Wende zu geben und nach den Gründen für die weitverbreitete Beliebtheit Benjamins zu fragen. Dabei schlug er vor, die kritische Untersuchung der Überlieferung, die Benjamin fordert, auf diesen selbst anzuwenden.

Von diesen gegenwartsbezogenen Situationsbeschreibungen ausgehend möchte ich drei Thesen für das geschichtspolitische Engagement heute formulieren. Diese sind lediglich als Vorschläge zu verstehen, wie in eine solche Richtung weiter gedacht werden könnte.

  • Heute reicht es nicht mehr, die Opfer der Geschichte gegenüber einer Geschichte der Helden und Sieger stark zu machen. Von der hegemonialen Geschichtspolitik werden die Opfer heute weniger verdrängt – sie werden als Opfer dienstbar gemacht für ein positives Selbstbild: „Wir“ können auf Deutschland stolz sein, weil es seine Vergangenheit aufgearbeitet hat. So werden die Opfer nicht mehr in den Schatten der Geschichtsschreibung gedrängt, sie werden als Anwesende neutralisiert. Vor diesem Hintergrund müssen neue Strategien erfunden werden, das Unabgegoltene der Vergangenheit gegenüber dieser Vereinnahmung zur Geltung zu bringen. Dabei sind solche Menschen in Erinnerung zu rufen, die sich einem „produktiven“ und „konstruktiven“ Beitrag, etwa zur heute so beliebten Versöhnung, entziehen. Jean Amérys bewusstes Festhalten am Ressentiment könnte hier ein interessanter Bezugspunkt für eine Kritik hegemonialer Formen nationaler Geschichtsschreibung sein[18].
  • Sieht Benjamin den politischen Konformismus in der Vorstellung begründet, von einem universellen Fortschritt getragen zu sein, so ist fraglich, ob heute das Subjekt seinem „Schicksal“ gegenüber gestärkt dasteht. In der (nicht so neuen) „neuen Unübersichtlichkeit“ scheint sich eher lediglich die Skalierung der Kräfte verändert zu haben, denen sich das Subjekt unterworfen sieht. Nicht mehr die Universalgeschichte weist uns unseren Platz an, sondern wir haben uns einem scheinbar undurchdringbaren Gewirr von ständig sich verändernden Verhältnissen anzupassen. Theoretisch wird dies in der Popularisierung der poststrukturalistischen Rede vom Tod des Subjekts gespiegelt. Vor diesem Hintergrund scheint es von gesteigerter Bedeutung zu sein, Benjamins Fortschrittskritik nicht einfach in eine allgemeine Theorie der Kontingenz aufgehen zu lassen, sondern an einer Perspektive kollektiven Fortschritts festzuhalten, der allerdings durch nichts garantiert ist, sondern – wie Heinrich es in ihrem Vortag formulierte – immer wieder von Neuem errungen werden muss.
  • Wenn ein garantierter Fortschritt mit Benjamin zurückzuweisen ist, wenn weiter der Klassenkonflikt nicht mehr als selbstverständlicher Grund politischer Kämpfe angenommen werden kann und wenn andererseits aber Fortschritt als etwas zu Erringendes nicht aufgegeben werden soll, dann verändert sich das Verhältnis von politischem Kampf und dessen Zielen. Die Richtung des politischen Kampfes kann diesem heute nicht mehr vorausgehen, sondern muss in ihm selbst erstritten werden. Dies bedeutet keinesfalls, dass der Klassenkonflikt keine Rolle mehr spielt, er überlagert sich jedoch mit anderen Unterdrückungsverhältnissen. Damit geht andererseits aber auch einher, dass die „herrschende Klasse“, von der Benjamin die Gefahr einer Vereinnahmung der Überlieferung ausgehen sieht, nicht mehr so einfach zu identifizieren ist. Es kommt auch hier zu einer (teilweise widersprüchlichen) Überlagerung der Vereinnahmungen, etwa wenn die feministischen Kämpfe der Vergangenheit rassistisch gegen Geflüchtete mobilisiert werden. Hier ist es eine geschichtspolitische Herausforderung, sich in dem fortwährenden Versuch, „die Überlieferung […] dem Konformismus abzugewinnen“ (VI. These), miteinander zu verbünden.

Diese drei Punkte verweisen letztlich auf die Wichtigkeit davon, die Frage nach der geschichtspolitischen Bedeutung Benjamins auch ausgehend von konkreten geschichtspolitischen Kämpfen zu stellen. Dies konnte auf der Tagung leider nur rudimentär geschehen. Die Vorträge gingen zunächst von einem theoretischen Interesse aus. Dies gilt zwar nicht von der Vorstellung der „historia viva“-App durch Heike Demmel im Anschluss an die Tagung – die Smartphone-Anwendung erlaubt es, sich dem Leben Benjamins ausgehend von seinem Fluchtweg über die Pyrenäen zu nähern –, allerdings lag der Fokus hier primär auf der Darstellung von Benjamins Leben und den Fluchtumständen und nicht auf Benjamins geschichtsphilosophischem Denken.Dass ein direkterer Einbezug geschichtspolitischer Initiativen und Aktivist*innen einen Beitrag zur Konkretisierung der geschichtspolitischen Beschäftigung mit Benjamin leisten könnte, bedeutet, wie aufgezeigt, keinesfalls, dass die Tagung keine Impulse zur Debatte über aktuelle Voraussetzungen für geschichtspolitisches Engagement beizutragen hatte. Die herausgearbeiteten Grundlagen einer radikalisierten Geschichtsphilosophie mit den Problemen in Dialog zu bringen, denen sich geschichtspolitische Initiativen und soziale Bewegungen in ihrem Engagement ausgesetzt sehen, wäre jedoch ein vielversprechender nächster Schritt hin auf eine linke Geschichtspolitik.



[1]     Walter Benjamin 1965: Über den Begriff der Geschichte, in: Zur Kritik der Gewalt und andere Aufsätze, Frankfurt a. M.: Suhrkamp: S. 78–94. Zur Entstehungs- und Editionsgeschichte: Walter Benjamin 2010: Über den Begriff der Geschichte, in: Werke und Nachlass. Kritische Gesamtausgabe, Bd. 19, hg. von Gérard Raulet, Berlin: Suhrkamp.

[2]     Gérard Raulet ist französischer Philosoph, Germanist und Übersetzer sowie Professor für deutsche Ideengeschichte an der Sorbonne in Paris. Er ist unter anderem Herausgeber der Kritischen Ausgabe der Geschichtsphilosophischen Thesen von Benjamin. | Walter Benjamin 2010: Über den Begriff der Geschichte, a.a.O.

[3]     Raulet sprach bevorzugt von „sogenannten Thesen“ um darauf hinzuweisen, dass die Herkunft der verschiedenen dem Text gegeben Titel nicht klar ist. Ob es hier um „Thesen“ geht oder ob der „Begriff der Geschichte“ der entscheidende Gegenstand ist, sei letztlich zu diskutieren und sollte nicht einfach durch den Titel suggeriert werden. Der Einfachheit halber werde ich im Folgenden jedoch „Geschichtsphilosophische Thesen“ schreiben.

[4]     Walter Benjamin 1963: Eduard Fuchs, der Sammler und der Historiker, in: Ders.: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Drei Studien zur Kunstsoziologie, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, S. 65–107.

[5]     Gregor Wedekind ist Professor für Kunstgeschichte der Moderne und der Gegenwart an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Er hat zu Paul Klees frühem Bildzyklus „Inventionen“ promoviert und u. a. zu Paul Klees Engelsbildern veröffentlicht. | Gregor Wedekind 2012: Im Hinblick auf das Höhere. Paul Klees para-spirituelle Kunst, in: Paul Klee. Die Engel, Ostfildern: Hatje Cantz S. 107–113.

[6]     Frank Voigt promoviert an der Universität Potsdam mit einer literaturwissenschaftlichen Arbeit zum historischen Bewusstsein und der historischen Erkenntnis bei Walter Benjamin. | Frank Voigt 2015: Walter Benjamins Lektüre der „Neuen Zeit“. Zu einem Konvolut unveröffentlicher Manuskripte aus dem Nachlass, in: Das Argument, 312, S. 185-201

[7]     Marcus Hawel ist Soziologe und Philosoph. Seit 2009 ist er Referent für Bildungspolitik im Studienwerk der Rosa Luxemburg Stiftung. Er schreibt u. a. zur Vergangenheitsbewältigung und zur Kritischen Theorie. | Marcus Hawel 2007: Die normalisierte Nation. Vergangenheitsbewältigung und Außenpolitik in Deutschland, Hannover: Offizin.

[8]     Walter Benjamin 1983: Das Passagen Werk, 2. Bd., Frankfurt a. M.: Suhrkamp.

[9]     Étienne Balibar 2013: Marx’ Philosophie, Berlin: b_books, S. 47.

[10]    Karl Marx/Friedrich Engels 1972 „Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte“, MEW, Bd. 8, S. 115-123, hier S. 115.

[11]    Richard Faber ist Kultur- und Religionssoziologe aus Berlin. Er veröffentlichte u. a. zur Politischen Theologie, zur Konservativen Revolution und zu Walter Benjamin. | Richard Faber 2007: Politische Dämonologie. Über modernen Marcionismus, Würzburg: Königshausen & Neumann.

[12]    Thomas Schröder ist Antiquariatsbuchhändler und Kulturveranstalter in Mainz. Schröder promovierte mit einer Arbeit zur Säkularisation des Schönen bei Hölderlin. Von 1994 bis 1996 arbeitete er am Theodor W. Adorno-Archiv in Frankfurt a. M., wo er die Vorlesung „Probleme der Moralphilosophie“ herausgab. | Thomas Schröder 1996: Der Prozeß der Säkularisation und das Ende der Naturgeschichte. Zur Kritik der ‚Politischen Theologie‘, in: Topos, Heft 8: Aufklärung, S. 129–141.

[13]    Sigmund Freud 1999: Der Mann Moses und die monotheistische Religion, in: Gesammelte Werke, Bd. 16, Frankfurt a. M.: S. Fischer, S. 101–246.

[14]    Sigmund Freud 1993: Psychoanalyse und Telepathie, in: Gesammelte Werke, Bd. 17, Frankfurt a. M.: S. Fischer, S. 25–44.

[15]    Walter Benjamin 1991: Über das mimetische Vermögen, in: Gesammelte Werke, Bd. 2, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, S. 210–213.

[16]    Richard Faber wies darauf hin, dass auch eine andere Interpretation dieser Stelle der I. These möglich sei. Grammatikalisch offen bleibe, ob es der historische Materialismus sei, der die Theologie in seinen Dienst nehme, oder ob nicht vielmehr die Theologie den historischen Materialismus ihn ihren Dienst nehme.

[17]    Caroline Heinrich ist Juniorprofessorin für Didaktik der Philosophie/Praktische Philosophie an der Universität Paderborn. Sie studierte Philosophie und Germanistik in Münster und Mainz und promovierte mit einer geschichtsphilosophischen Arbeit über die Opfer von Herrschaft. | Caroline Heinrich 2008: Grundriss zu einer Philosophie der Opfer der Geschichte, 2. Aufl., Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft.

[18]    Zum Konzept des Ressentiments bei Améry vgl. Bianca Pick i.E.: Das Ressentiment als Bestandteil literarischer Distanzierung, in: Johanna Gehmacher/Klara Löffler (Hg.): Konstellationen auto/biographischer Erzählungen über Gewalterfahrungen im Kontext des Zweiten Weltkriegs, Wien: new academic press.