Publikation Jetzt frei online verfügbar: Doku »Freie Räume« zur Geschichte der Jugendzentrumsbewegung

Ton Steine Scherben-Mitgründer Wolfgang Seidel im Gespräch mit Jonas Engelmann über die Jugendzentrumsbewegung in Westdeutschland

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Jung sein

Ein Film zur Jugendzentrumsbewegung

Von Jonas Engelmann

»In den ›langen 1960er Jahren‹ verlängerte sich auch für Jugendliche die freie Zeit jenseits von Schule und Betrieb«, erklärt der Soziologe David Templin in seiner Untersuchung »Freizeit ohne Kontrollen« über die Jugendzentrumsbewegung in der Bundesrepublik der 1970er Jahre. »Im Gefolge des Durchbruchs einer – auf der fordistischen Produktion standardisierter Konsumgüter beruhender – Massenkonsumgesellschaft war es nicht nur zu ökonomischen, sondern auch zu tiefgreifenden gesellschaftlichen Wandlungsprozessen gekommen.« Lebensweisen und politische Einstellungen hatten sich seit den 1950ern liberalisiert und immer mehr Jugendliche besuchten Gymnasien, wodurch sich die Ausbildungszeiten verlängerten. Eine Folge dieser gesellschaftlichen Veränderungen war die Forderung von Jugendlichen nach Freiräumen, in denen sie ihre Freizeit jenseits der Kontrolle der Elterngeneration selbst gestalten konnten. Es entstanden an zahlreichen Orten lokale Netzwerke von Jugendlichen, die für »Freizeit ohne Kontrollen« auf die Straße gingen und »Selbstverwaltung als Demokratie in Praxis« – so ein Demoslogan aus Mainz – von der Politik einforderten. Der Mannheimer Regisseur Tobias Frindt hat der heute etwas in Vergessenheit geratenen Bewegung mit dem Film »Freie Räume. Die Geschichte der Jugendzentrumsbewegung«, der nun frei im Netz verfügbar ist, ein Denkmal gesetzt. Historisches Filmmaterial, zum größten Teil von jugendlichen Aktivisten in Mannheim und Mainz selbst produziert, steht neben Aufnahmen aus gegenwärtigen Jugendzentren. Außer dem Wissenschaftler David Templin kommen auch zahlreiche frühere Aktivistinnen und Aktivisten zu Wort, die über ihre Kämpfe gegen konservative Kleinstadtpolitiker sprechen, über die Verbindungen zur Hausbesetzerszene und über die Krise der Jugendzentrumsbewegung ab Mitte der 1970er.

Vor 1970 waren es vor allem Jugendverbände und die Jugendpflege, die sich um die Jugend kümmerten; neben Sport, Jugendfreizeiten, Pfadfindern und kirchlichen Aktivitäten war allerdings dadurch nicht viel Angebot vorhanden. Aber mit der zunehmenden Freizeit von Jugendlichen stiegen die Erwartungen an die Gestaltung dieser Freiräume, es entstanden neue Bedürfnisse, die von den Jugendverbänden nicht mehr gedeckt werden konnten. »Die Jugendzentrumsbewegung war eine Reaktion auf die Verbotshaltung der Gesellschaft«, erklärt Werner Schretzmeier, ein ehemaliger Jugendzentrums-Aktivist im Juz Hammerschlag in Schorndorf, im Film. »Man durfte einfach nicht jung sein.« Daher entstanden in den frühen 1970ern, oft in Verknüpfung mit der Lehrlingsbewegung und angefeuert von der Studentenbewegung, zahlreiche Initiativen, vor allem in der Provinz der BRD. »In jedem dritten Kaff gab’s so eine Bewegung«, erinnert sich der Musiker Bernd »Schlauch« Köhler aus Mannheim. Diese Initiativen waren nicht alle explizit politisch, sondern kämpften zunächst einmal um Freiräume für die Freizeit. Allerdings haben in der Organisation politische Jugendorganisationen wie die Jungsozialisten, der SDAS oder der kommunistische Jugendverband häufig eine zentrale Rolle gespielt, die die Selbstorganisation als Akt der Befreiung von Fremdbestimmung und die Selbstverwaltung in den Mittelpunkt gerückt haben. »Was wir in der Arbeit, im Beruf machen, bestimmen die Chefs. Was wir im Fernsehen, im Kino sehen, bestimmt die Filmindustrie. Also dürfen wie wählen zwischen den Leuten, die uns bestimmen. Wann versuchen wir endlich unser Leben selber zu bestimmen?«, hieß es kämpferisch auf einem Flugblatt für ein Jugendzentrum aus jener Zeit. »Ein grundlegend antifaschistisches Verständnis war von vornherein da«, ergänzt Bernd Köhler. »Und das Antikapitalistische im Hinterfragen dieses Systems.« Aus diesem Gemisch aus Antifaschismus und Antikapitalismus, der Sehnsucht nach politischen und kulturellen Freiräumen oder einfach Orten für ein Bier am Abend ohne den kontrollierenden Blick der Eltern entstanden in den 1970ern Hunderte selbstverwaltete Jugendzentren. Einige mussten hart erkämpft werden, andere wurden von der Lokalpolitik unkompliziert zur Verfügung gestellt. Ab etwa 1975 geriet die Bewegung in eine Krise, die Offenheit kommunaler Vertreter kippte unter dem Vorwand einer linken Unterwanderung der Zentren und des Vandalismus, viele Orte der Selbstverwaltung wurden wieder geschlossen.

Der Film von Tobias Frindt spannt einen großen Bogen bis in die Gegenwart, wo politische Akteure wie die AfD oder die NPD gegen linke Jugendzentren agitieren und »freie Räume« wie das AJZ Leisnig in Sachsen direkt bedrohen. Auch das Juz Mannheim ist in den 1990ern immer wieder von Rechten angegriffen worden. Anderswo legen politische Entscheidungsprozesse in Form von ausbleibenden Fördergeldern den Jugendzentren Steine in den Weg. Frindt zeigt, dass angesichts der neuen Bedrohung von rechts die »Freizeit ohne Kontrollen« in den Jugendzentren wichtiger ist denn je. »Gerade wenn du Punk auf dem Dorf warst«, erinnert sich Mal Élevé von der Band Irie Révoltés an die Bedeutung des Juz Mannheim für seine eigene Politisierung in seiner Jugend. »Ein Ort wo du einfach hingehen kannst, wo alle ähnlich drauf sind, wo Konzerte sind, und dann haben wir mitgekriegt, da gibt’s einen Infoladen, fette Bücher, Buttons, T-Shirts.«

Obwohl der Film die gegenwärtige Dringlichkeit von Orten wie dem Juz Mannheim oder dem AJZ Leisnig erklären kann, verliert er im Versuch, einen großen Bogen von 1970 bis in die Gegenwart zu spannen und die unterschiedlichen Kämpfe dieser 50 Jahre deutscher Gegenkulturgeschichte abzubilden, ein wenig den roten Faden. Der genaue Blick auf die historischen Kämpfe gegen die Elterngeneration in den Siebzigern, gegen Kontrollen und Zwänge, für freie Räume und Selbstbestimmung, der den größten Teil von »Freie Räume« einnimmt, entschädigt jedoch für diesen einzigen Kritikpunkt.

»Von Staatsknete unabhängig sein«

Gespräch mit Wolfgang Seidel

»Diese Fusion von Politik und Kultur lebte in der Jugendzentrumsbewegung wieder auf«, erklärt David Templin im Film, »weil einerseits politisch engagierte Jugendliche sich in dieser Bewegung beteiligten, diverse linke Gruppierungen, K-Gruppen, Jungsozialisten, aber auch Jugendliche, die einen Raum suchten, um sich selbst zu verwirklichen, um Musik zu machen.« Eine zentrale Band dieser Schnittstelle von Kultur und politischem Aktivismus, die auch für die Jugendzentrumsbewegung eine wichtige Rolle gespielt hat, waren Ton Steine Scherben aus Berlin. Der 1949 geborene Wolfgang Seidel war 1970 Gründungsmitglied der Band und nahm mit ihr das erste Album »Warum geht es mir so dreckig« und die in ihrer Bedeutung für die Politisierung einer ganzen Generation kaum zu unterschätzende Single »Macht kaputt was euch kaputt macht« auf. Im Gespräch beschreibt er das Verhältnis von Lehrlings- und Jugendzentrumsbewegung und erinnert sich an die Zersetzungsprozesse, die die Bewegung ab Mitte der 1970er erfasst haben.

Wie war das Verhältnis von Jugendzentrums- und Hausbesetzer-Bewegung, haben Überschneidungen, Beeinflussungen und Abgrenzungen existiert?

WS: Es gibt erhebliche Unterschiede zwischen den Hausbesetzern Anfang der 1970er und den Entwicklungen ab den 1980ern. Das Georg-Rauch-Haus ist ja – wegen des Scherben-Songs – populär geworden. Das wurde von Jugendlichen, mehrheitlich Lehrlingen und jungen Arbeitern, aus der Nachbarschaft besetzt. Kreuzberg war ein Stadtbezirk, in dem die Wohn- und Lebensverhältnisse trotz Wirtschaftswunder noch sehr bescheiden und beengt waren. Zu den Regeln des Hauses gehörte es, zu arbeiten, bzw. für die noch schulpflichtigen Jugendlichen der regelmäßige Schulbesuch. Man wollte so weit wie möglich von Staatsknete unabhängig sein, um sich nicht angreifbar zu machen als Leute, die es sich auf anderer Leute Steuergroschen bequem machen. Was die Arbeit betrifft, bemühte man sich, Jobs in großen Betrieben zu bekommen und dort auch innerhalb der gewerkschaftlichen Strukturen aktiv zu werden. Die Lieblings-Themen der Studentenbewegung – Vietnam, Nahost – spielten eine untergeordnete Rolle.

Die Jugendzentren waren ja nicht per se linke Orte, sondern zunächst einmal Orte zum Verbringen von Freizeit. Sind die Jugendlichen vor allem über die Reibungen mit der Stadt, die Kämpfe um Räume, politisiert worden? Oder war linke Politik in allen Facetten Teil der Jugendzentrumskultur?

WS: Der Schwerpunkt der Jugendzentrumsbewegung waren die kleinen Industriestädte, z.B. im Stuttgarter Raum, also prosperierende Industrieregionen. Das ist typischer als das, was im eher subkulturell geprägten Berlin passierte. Die Lebensumstände der Jugendlichen waren von dem Widerspruch der brummenden Wirtschaft und den Versprechungen einer Konsumgesellschaft auf der einen und den beengten Verhältnissen, in denen sie lebten, auf der anderen Seite geprägt. Beengt heißt dabei nur zum Teil materiell, denn dazu kamen autoritäre Erziehung und repressive Moral – in den Familien, der Schule oder in der Lehrlingsausbildung. Ein Freizeitangebot gab es nur sehr beschränkt im kommerziellen Bereich. Das musste man sich erstmal leisten können und dürfen. Denn für die Jüngeren galt, dass gesetzliche Regelungen wie Altersbeschränkungen rigide gehandhabt wurden. Die Freizeitangebote der Städte waren ebenfalls sehr begrenzt und gingen meist an den Bedürfnissen der Jugendlichen vorbei. Die Jugendzentren waren mal besetzt, mal von den Städten zur Befriedung und manchmal wohl auch aus Einsicht zur Verfügung gestellt, als Orte einer selbstbestimmten Freizeit. Eng verzahnt damit war die Lehrlingsbewegung mit ihren Forderungen nach besserer Ausbildung, besserer Bezahlung etc. Das entstand relativ zeitgleich mit der Studentenbewegung und war von den Aktionsformen her auch von ihr beeinflusst, hatte aber eine eigene Agenda. Man verstand die zwar auch als linke Politik – aber in einem wesentlich praktischeren Sinn.

Was hatten denn die Akteure für einen sozialen Background?

WS: Zahlen habe ich keine. Aber in »Freie Räume« heißt es: Lehrlinge, junge Arbeiter, Schüler. Und viele Gymnasiasten. Man muss daran bedenken, dass mit Beginn der 1970er Bildungsreformen griffen und das Bafög eingeführt wurden. Ein großer Teil, wahrscheinlich die Mehrheit der Gymnasiasten, die in den Jugendzentren aktiv wurden, gehörten zur ersten Generation, die es in der Familie zu höherer Schulbildung gebracht hatte. Deren Lebenshintergrund war immer noch kleinbürgerlich, von der Arbeiterklasse geprägt. Damit hatten sie allerdings mehr Gründe zu rebellieren, als die Studenten mit bürgerlichem Background. Für die eher kleinbürgerlichen Sozialstruktur der Jugendzentrumsbewegung in deren frühen Jahren spricht auch, dass die Bewegung vor allem in kleineren Industriestädten aktiv war.

Welche kulturelle Bedeutung hatten die Jugendzentren für z.B. Bands wie die Scherben?

Kulturell hatten die Jugendzentren einigen Einfluss. Allerdings sind die zahlreichen Theater-, Film oder Fotogruppen, die sich dort gebildet hatten, heute vergessen. Ein bisschen mehr im Gedächtnis geblieben ist die Rolle, die die Jugendzentren für die Musikszene hatten. Bands wie die Scherben oder Floh de Cologne, die in ihren Songs die Lebenssituation der Jugendlichen thematisiert haben, waren natürlich besonders gefragt. Aber auch fast jede Band, die heute unter Krautrock einsortiert wird, hatte dort ihr Publikum. 

Wie hast du das Ende der Bewegung erlebt, was ist dabei weggebrochen?

Das lässt sich so nicht beantworten, da von einem Zeitraum von inzwischen 50 Jahren die Rede ist, in denen viele ökonomische und gesellschaftliche Veränderungen und auch Brüche stattgefunden haben. Spätesten Mitte der 1970er war die Prosperitätsphase vorbei, die in Deutschland Wirtschaftswunder hieß – in England Swinging Sixties, in Frankreich Trente Glorieuses. Aus dem, was die Briten »aspiring working class« genannt haben, wurden die »chavs«. In Deutschland hat man Begriffe wie »bildungsfernen Schicht« und »Unterschichtenfernsehen« – in dem die Oberschicht das Programm bestimmt– erfunden. Schon die Hausbesetzer-Bewegung der 1980er, so wie ich sie in West-Berlin erlebt habe, unterschied sich erheblich von den Jugendzentren der frühen 1970er. Das war viel subkultureller und dystopischer geprägt als die Bewegung zehn Jahre zuvor – was sich ja auch in der Musik gespiegelt hat. Ein Teil der Forderungen der Bewegung aus der Zeit um 1970 hatte sich auch erledigt – erfolgreich oder in Kompromissen, mit denen man sich arrangieren konnte. Die rigide Moral war auf dem Rückzug, autoritäre Strukturen aufgeweicht, Bafög, Berufsausbildungsgesetz etc. Allerdings nicht für alle gleichermaßen. Es hat eine Partikularisierung stattgefunden, weswegen man einen Begriff wie Jugendkultur nur noch im Plural verwenden kann. Das letzte Kapitel des Films »Freie Räume« kann einen traurig stimmen. Aus dem gemeinsamen Kampf eines großen Teils der Jugendlichen gegen ein autoritäres System ist ein Kampf der einen Jugendlichen gegen die anderen geworden.