Publikation »Die spirituelle Querfront«

Steffen Greiner im Gespräch über Inflationsheilige, Corona-Demos, Dada-Abtrünnige und aktuelle Querfrontler

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Notgeld der Stadt Kahla (1921) mit Motiven zu Mucks „Sündenfall“

 

»Die spirituelle Querfront«

Steffen Greiner im Gespräch mit Jonas Engelmann über Inflationsheilige, Corona-Demos, Dada-Abtrünnige und aktuelle Querfrontler

In seinem Buch »Die Diktatur der Wahrheit. Eine Zeitreise zu den ersten Querdenkern« untersucht der Kulturwissenschaftler  Steffen Greiner die Ursprung der spirituellen Querfront, die durch die Proteste gegen die Corona-Maßnahmen an die Oberfläche gespült wurde und seitdem sowohl auf den Straßen als auch in der gesellschaftlichen Debatte präsent ist. testcard hat ihn zu den Linien befragt, die von den Inflationsheiligen der Jahre nach dem Ende des Ersten Weltkriegs bis in die Gegenwart führen. Das Gespräch, das unser MItarbeiter Jonas Engelmann mit ihm geführt hat, erschien ursrpünglich im Magazin testcard: Beiträge zur Popgeschichte #27: Rechtspop, wir danken für die Möglichkeit, es hier dokumentieren zu können. 

Die Biografien, die du in deinem Buch beschreibst, strahlen einen gewissen Glamour aus. Und sie bedienen sich aus diversen Quellen, um sich ihre Identitäten zu konstruieren, was ja durchaus eine Popstrategie ist. Sind diese Inflationsheiligen frühe Popstars?

Steffen Greiner: Der junge Gusto Gräser mit seinem Heiligenschein-Kopfband und dem langen Bart wurde ja tatsächlich von den Kindern für Jesus gehalten und fühlte sich wohl auch ganz wohl damit. Friedrich Muck Lamberty zog mit der „Neuen Schar“ große Menschenmengen an, die mit ihm tanzen wollten. Gustaf Nagel konnte richtig gut davon leben, Postkarten mit seinem Porträt zu verkaufen. Und als Louis Haeusser wieder einmal so besoffen ist, dass er unmittelbar vor einem Vortrag über die spirituelle Erweckung Deutschlands auf die Bühne kotzt, stürzen zahlreiche in ihn verliebte Frauen auf die Bühne, um es wegzuwischen. Irgendwie, na klar, ist das Pop. Beim Schreiben habe ich mir oft diese Frage gestellt: Glauben sie selbst, was sie da sagen, nehmen sie sich selbst ihre Rolle als Prophet ab? Ist jemand wie Louis Haeusser, der ganz viele Identitäten annimmt und bewusst mit dem Publikum spielt, mal mit einer Peitsche auftritt, mal sanft, mal ein Sexgott ist, mal Asket, der sich vom sleeky Businessmann zum bärtigen Naturmensch und zurück verwandelt, ein David-Bowie-Charakter? Er spielt ein doppeltes Spiel, er weiß, dass er nicht wirklich der Erlöser ist, aber er nimmt sich trotzdem ernst in seiner Rolle. Also eigentlich macht er da gar kein Spiel draus, wie das Pop wahrscheinlich tun würde, da ist eigentlich das Wort falsch. Und er beherrscht keine Selbstironie, auch das wäre für mich eine Voraussetzung für Pop. Das gilt ebenso auch für die anderen.

Gustaf Nagel 1902

Was hat denn ein Mensch wie etwa Louis Haeusser mit der aktuellen Querdenker- und Corona-Leugner-Bewegung zu tun?

Mir ging es darum, die Vorgeschichte dieser Querdenker-Bewegung zu erzählen. Für viele Leute hat es ja zunächst seltsam gewirkt, dass da Gewaltnazis zusammen laufen mit Menschen mit Dreadlocks, dass da Ton Steine Scherben aus den Boxen kommt und dann ein alter Mann sagt, die Juden seien schuld. Diese Verbindung hat ja viele Leute verwundert, was mich wiederum etwas erstaunt hat, weil es in den letzten Jahren schon ähnliche Bewegungen gab, angefangen mit der Friedensbewegung in den Achtzigern. Und vor allem dann 2014 diese Putin-freundliche Friedensbewegung aus der ja auch KenFM und so weiter hervorging. Mein Anspruch war es, zu schauen, wie lange eigentlich schon diese komische spirituelle Querfront in Deutschland existiert. Dafür habe ich sehr weit zurück geblickt, nicht ganz bis zur Romantik, obwohl man da auch schon diese binäres Denken finden kann, rein gegen unrein, Kultur gegen Natur, das sich heute in der Querdenken-Bewegung spiegelt, im natürlich-gesunden Immunsystem versus die künstlich-giftigen Impfstoffe.

Der Kern dieser Vorgänger der Querdenker war für mich die Lebensreform-Bewegung und die sogenannten Inflationsheiligen wie eben Louis Haeusser, die aus der Lebensreform hervorgegangen sind. Louis Haeusser ist darunter der Bekannteste. Er ist als barfüßiger Prophet durch Deutschland gewandert, ist immer wieder mit dem Gesetz in Konflikt gekommen – weniger wegen dem, was er gepredigt hat, eher, weil er ständig irgendwo nackt rumgerannt ist in den frühen Zwanzigern. Haeusser kam aus Schwaben, war ein Bauernsohn, der allerdings einen wahnsinnigen Bildungshunger hatte, deswegen immer wieder mit seinem Elternhaus in Konflikt geraten ist und dann auch früh seine Familie zu verlassen hat. Er ist nach England und danach nach Frankreich gegangen, nach Paris, wo er sein Geld mit Betrug verdient hat – er hat Urkunden erfundener Weltausstellungen ausgestellt. Als das auffliegt, wird er Champagner-Fabrikant und damit international auch relativ erfolgreich, er heiratet in gute französische Kreise und wird durchaus reich. Mit dem Ersten Weltkrieg hat er allerdings einen komischen religiösen Dreh bekommen und von heute auf morgen beschlossen, sein Vermögen an Freund*innen zu verschenken und den Frieden zu predigen. Er hat sich selbst als eine Christusfigur verstanden, mit Zügen von Zarathustra und Laotse und Nietzsches Übermenschen, und ganz viele messianischen Gedanken in sich vereint.

Haeusser-Plakat

War das für das Publikum nicht zu abstrakt. Die Botschaft Frieden kann man ja noch verstehen, auch gerade zu Kriegszeiten, aber dieser ganze Überbau? Ist dann eher die Person das Entscheidende und weniger die Inhalte?

Die Inhalte waren für die Leute genauso wenig nachvollziehbar wie für uns. Es gibt Berichte aus den Anfangstagen, dass er vierstündige inbrünstige Vorträge gehalten hat, das wird wahrscheinlich ziemlich scheiße gewesen sein. Er hat dann aber schnell angefangen, sich einen Charakter aufzubauen, gelernt, dass die Show wichtiger ist als die Inhalte. Seine wichtigste Strategie war die Publikumsbeschimpfung, er hat sich dann hingestellt und gesagt: Ich bin der Übermensch und ihr seid Affen und Säue. An seine Thesen hat er trotzdem geglaubt, muss man aber ergänzen. Zum anderen hat er eine ganz spannende Bildsprache entwickelt, er hat viel mit catchy Phrasen und Typografie gearbeitet.

In deinem Buch beschreibst du diese Herangehensweise, dieses Plakative, als Vorläufer der heutigen Social-Media-Nutzung. Was waren denn die Medien?  

Es gibt diesen schönen Satz von Raoul Hausmann aus den Anfangstagen der Weimarer Republik, dass die kommunistische Bewegung brachliegt, weil jeder jetzt eine eigene Zeitung rausgibt. In der Weimarer Republik gab es eine wahnsinnige Explosion der Medien. Diese Inflationsheiligen haben das genutzt und dann angefangen, sich selbst medial zu kuratieren. Man kann das tatsächlich damit vergleichen, wie wir heute in den sozialen Medien Profile gestalten. Man sieht Nachrichten, kommentiert die; das machen wir bei Twitter und das macht Haeusser in seiner Zeitschrift Haeusser, die einmal wöchentlich in einer relativ hohen Auflage rauskommt. Das haben andere Heilige in ihren jeweils eigenen Zeitschriften genauso gemacht, Leonhard Stark hatte die Zeitschrift Stark, Franz Kaiser hatte die Zeitschrift Kaiser und so weiter.

Zeitungsannonce Muck Lamberty

Dieser Begriff des Inflationsheiligen, war das eine Fremd- oder eine Selbstbezeichnung?

Das ist ein despektierliche Begriff, den sie selbst nicht verwendet haben. Die kannten sich zwar untereinander, standen in Kontakt, aber es gab keine Selbstbezeichnung dieser Gruppe. Und schon gar nicht Inflationsheilige, obwohl diese Fremdbezeichnung diese kurze Phase ganz gut trifft, in der sie eine Chance hatten: Sie erscheinen ab etwa 1918 mit dem Zusammenbruch des Kaiserreichs, 1924 sind sie dann, als sich die Weimarer Republik zum ersten Mal stabilisiert hat, wieder verschwunden.

Was heißt verschwunden? Spielen sie plötzlich keine Rolle mehr? Und gibt es andere Figuren, die ihren Platz eingenommen haben?

Sie verlieren ihre Relevanz. Haeusser hatte daran geglaubt, 1924 mit großer Mehrheit mit seiner eigens gegründeten Partei in den Reichstag einzuziehen, kriegt es aber nicht hin. Er stirbt 1927, leitet seine eigene Reichskanzlei in einer Mietwohnung im Berliner Regierungsviertel. Viele andere ziehen sich einfach zurück, suchen sich Jobs und schlagen ganz klassische Lebenswege ein. Aber na klar, im Grunde ist natürlich Hitler durchaus ein Echo dieser Figuren, die erfolgreiche Mutation, auch einer von denen, übrigens, die nach dem Krieg einen Bruch erlebten und als spirituelles Erweckungserlebnis verstanden.

Wo du gerade die Wahlen anspricht: Die Lebensreformer hatten ja eher weniger realpolitische Ambitionen, aber die Inflationsheiligen schon?

Genau. Hier war Haeusser tatsächlich ein kleiner Pionier. Er hat parteipolitisch agiert, das aber natürlich auch sehr sakral: Er hat die Christlich Radikale Volkspartei gegründet, die nicht unbedingt auf detaillierte Politikprogramme abgehoben, aber tatsächlich versucht hat, auf demokratischem Weg Macht zu erlangen.

Was waren denn die realpolitischen Inhalte dieser Partei? Für den Fall, dass sie die Macht erhalten hätte.

Naja – die Wahrheit. Es gibt keine Inhalte, das meinte ich mit den sakralen Momenten. Er hat versucht, eine schwarz-weiß-rote Front zu bilden, wo schwarz für die völkische Bewegung steht, rot für die Kommunisten und das Weiß für die Wahrheit. Im Grunde genommen ist es total inhaltsleer. Allenfalls irgendwie ein kruder autoritärer Anarchismus für Herrenmenschen, die ihre eigenen Könige sind, aber das führt ja auch nicht weiter. Was er eigentlich will, ist letztendlich einfach die Macht erringen, er sieht sich da irgendwie als Partei, die über den Parteien steht. Eigentlich ist es eine klassische Antipartei. Er nennt die Demokratie auch Dämonkratie.

Friedrich Muck-Lamberty (Zeichnung)

Das ist ja eine interessante Parallele zur heutigen Partei Die Basis.

Genau, dieser Versuch, zu sagen: Wir sind keine Partei, sondern Bewegung, oder: Wir sind ein Team, wie das Team Todenhöfer. Und Die Basis, bzw. die Partei Widerstand2020, die erste Querdenken-Partei mit Bodo Schiffmann, hat ähnlich wie Haeussser tatsächlich damit geworben, dass sie in den ersten Tagen hunderttausende Mitglieder auf ihre Seite gezogen hätten.

Es war viel von Schwaben die Rede, eine Region, wo ja auch weitere antimodernistische Tendenzen stark vertreten sind, Rudolf Steiner etc. Gibt es Bezugnahmen der historischen oder gegenwärtigen Querdenker zur Anthroposophie?

Steiner ist ja selbst im Grunde genommen so eine Type. Er kommt ja aus der theosophischen Bewegung, macht sich dann als prophetische Gestalt selbständig – wenn auch viel seriöser. Und nachhaltiger. Es gibt nicht so viele direkte Berührungspunkte zwischen der Predigerszene und den Anthroposophen, allerdings ist das Publikum ein ähnliches. Und inhaltlich teilen sie bis heute die Impfgegnerschaft.

Rudolf Steiner 1882 in Wien

Über diese Impfgegnerschaft werden heute viele Konflikt ausgetragen; dass das ein historisches und auch ein sehr deutsches Phänomen ist, geht in der Debatte oft unter. 

Es ist tatsächlich relativ unverfälscht das Gleiche. Obwohl 150 Jahre Medizingeschichte dazwischen liegen ist der Impuls ein sehr ähnlicher und auch die Argumente gleichen sich. Dass ein Körper in der Lage ist, jede Krankheit zu besiegen, Krankheit den Körper stärker macht und es deswegen Teil des Lebens ist, durch harte Krankheiten durchzugehen. Diese anthroposophische Begründung, warum Impfen nicht gut ist für einen Körper, steckt heute auch in der Argumentation der Corona-Impfgegner. Diese Impfgegnerschaft ist im Grunde genommen schon seit den 1870er-Jahren organisiert, auch durchaus von ärztlicher Seite. In der Lebensreform mischt sich das massiv mit einem antiautoritären Impuls, mit einer Staatsskepsis, die ich damals, im Kaiserreich, besser nachvollziehen kann als heute. Gusto Gräser, auch ein in Schwaben agierender Lebensreformprediger, hat gesagt, es sei das deutscheste Wesen, sich nicht impfen zu lassen und seine Kinder auch nicht auf die Schule zu schicken. Man müsse sich schützen vor diesem Eingriff des Staates, der da als so eine Art Polizei ins eigene Immunsystem hineinwirkt. Es ist immer diese Gegenüberstellung: es gibt das Reine, Unverfälschte und es gibt das Fremdartige und das dringt irgendwie mich ein. Und in dem Moment wird es auch zu etwas Politischem, weil da auch ein ganz starker Antisemitismus drinsteckt.

Auf diese Gegenüberstellung von Reinheit und Künstlichkeit wollte ich gerade zu sprechen kommen. Du hast es ja bereits angesprochen, da steckt Antisemitismus, da stecken Ausgrenzungsmechanismen drin. Gab es einen Konsens unter den Konsumenten dieser Lehren, dass z.B. Juden nicht dazugehören sollen?

Es gab durchaus Debatten darüber; ob z.B. Juden Teil des Wandervogel sein dürfen, aber auch, ob die Arbeiterjugend und ob Frauen Teil davon sein können. Konkret wurde etwa in der wegweisenden und bis heute bestehenden Obstbausiedlung Eden bei Oranienburg 1916 festgelegt, dass nur völkisch gesinnten, arischen Deutschen das Siedeln erlaubt ist. Aber selbst wenn man einzelne Gruppen nicht immer real in den Vereinigungen ausgrenzt, bleibt dieser Grundzug als menschenfeindliches Potenzial erst mal bestehen. Und insbesondere die imaginierte Verbindung von Schulmedizin und Judentum ist etwas, das aus antisemitischen Impulsen heraus sehr lange zurückreicht und immer wieder fruchtbar bespielt werden konnte – der Begriff der „Schulmedizin“ ist nicht umsonst eigentlich eine abwertend gedachte Erfindung aus dem Umfeld der Naturheilkunde und Homöopathie. Den Extremfall rechts außen bildet heute die „Neue Germanische Medizin“, in der Chemotherapie gegen Krebs als teuflische jüdische Chemiewaffe gilt. 

Da docken ja auch heute gerne Verschwörungstheorien der Impfgegner-Szene an. Haben Verschwörungsmythen damals schon eine Rolle gespielt?

In der heutigen Form nicht. Allerdings braucht man ja auch gar keine skurrile reptiloide Verschwörungstheorie, wenn es einen sehr offenen Antisemitismus gibt. Das unterscheidet sie massiv von den Impfgegnern heute. Diese Verschwörungsmythen im Sinne komplexer Erzählungen mit aller Kreativität, die ja da letztendlich auch drinsteckt, ist damals tatsächlich noch nicht dabei.

Wurden die Inflationsheiligen nach ihrem Höhepunkt vergessen? Die heutige Querdenker-Bewegungen bezieht sich ja nicht direkt auf sie.

Komplett verschwunden sind sie nicht, die Menschen leben ja trotzdem weiter. Friedrich Muck Lamberty zum Beispiel war im Grunde genommen ein völkischer Raver. Der ist mit einer sogenannten „Neuen Schar“, mit tausenden Jugendlichen angeblich – im festen Kern wahrscheinlich nur eine Handvoll – durch Thüringen gezogen, hat dort zu alten Volksweisen getanzt und die Kirchen mit Blumen geschmückt. Das war alles immer sehr völkisch geprägt und gleichzeitig aber auch mit einem herrschaftskritischen Anspruch vorgebracht. Und der war tatsächlich dann später jemand, der die Achtundsechziger begrüßt hat. Er war Fan von Rudi Dutschke und irgendwann auch Fan der Grünen. Es gibt also durchaus eine Fortführung dieser Geistesgeschichte. Egal ob die Grünen davon wussten oder nicht, war für ihn klar, dass es da eine Kontinuität gibt. Noch plausibler ist es auf dem rechten Strang. In der Neuen Rechten gibt es auf jeden Fall eine Rezeption dieser Menschen ganz bewusst als Querfrontgestalten. Auf Menschen, die völkisches Gedankengut und Autoritätskritik verbinden und sich dadurch anbieten für die Neue Rechte, die sich ja selbst eben nicht mehr auf Hitler bezieht, sondern auf solche „linke rechte Traditionen“, die da also ein wenig Revolutionsspirit in den Mief holen wollen. In der intellektuellen Gründerzeit der Neuen Rechten, in den Achtzigern, wo die Ursuppe dessen entsteht, was wir heute als Identitäre Bewegung, als Ethnopluralismus kennen, hat das durchaus eine Rolle gespielt, die rechts-grüne Zeitschrift „Wir selbst“ verortet die Inflationsheiligen klar als ihre Vorbilder und andere, bekanntere wie Otto Strasser haben Berührungspunkte mit Protagonisten der Szene.

Du hast eben erwähnt, dass Muck Lamberty die Achtundsechziger als Fortführung seiner Ideen verstanden hat. In deinem Buch schreibst du, dass es drei Wellen der Querdenker-Konjunktur gab, die Zeit um den Ersten Weltkrieg, die Corona-Gegenwart und eben die Achtundsechziger und Folgen. Bei ersteren beiden kann man eine apokalyptische gesellschaftliche Stimmung als Gemeinsamkeit sehen, aber was war denn der Impuls für die Achtundsechziger?

In den Siebzigern schwillt ja dieses Apokalyptische durchaus an, mit dem Höhepunkt des „No Future“ im Punk. Aber auch die Umweltbewegung entsteht, die Vorstellung, dass alles jederzeit zu Ende sein kann. Der Wald stirbt, Kalter Krieg. Die Achtundsechziger hatten auch diesen antiautoritären Impuls. Historisch war die Lebensreform nicht so apokalyptisch wie die Inflationsheiligen. Die Lebensreform wollte die Welt nicht durch eine Revolution verändern, sondern indem man Siedlungen baut und Selbstversorger*in wird. Und das hatten auch die Achtundsechziger stark drin, das Leben in Kommunen. Das Private ist politisch, das könnte auch das Motto der Lebensreform sein, ohne dass es so formuliert worden wäre. Die Querdenker heute haben überhaupt nicht mehr dieses utopische Moment. Das maximal Utopische im Parteiprogramm von Die Basis ist, dass Spiritualität irgendwie Teil von Politik sein sollte. Spannender wäre es, die Verbindungen der Lebensreform zur völkischen Siedlerbewegung anzuschauen.

Ida Hofmann-Oedenkoven, Lotte Hattemer, Henri Oedenkoven im Winter 1902–03

Wo hat sich denn die historische Lebensreform-Bewegung jenseits ihres utopischen Gehalts politisch verortet?

Es ist schwer, das zu beantworten. Weil sie natürlich auch eben aus einer Verweigerung kommt, sich in diesem als schlaff empfundenen politischen System zu bewegen. Natürlich ist das erstmal progressiv, was die machen, aber eben, wir sprachen drüber, dann wieder müsste man sich, im Hinblick auf die politische Entwicklung, schon mit sehr großen Scheuklappen bewegen, um zu übersehen, wie eben auch die sympathischen vegetarisch-nudistischen Siedlungen den völkischen Experimenten Raum geben. Aber bemerkenswert ist schon, dass z.B. die Frauenbewegung mit der Lebensreform-Bewegung verbunden ist. Die Mitgründerin der Siedlung Monte Verita, Ida Hofmann, war eine Feministin, was sie auch klar formuliert hat. Gleichzeitig hat sie als Frau unter lauter komischen Führungsanspruchsmännergestalten gelebt und fand das auch okay. Und einmal die Woche gab‘s einen Wagner-Klavierabend, natürlich hängt der auch irgendwie in der Luft, als wäre es nicht kompliziert genug.

Heute gibt es ja auch diese Führungsanspruchsmännergestalten. Historisch wie gegenwärtig sind es hauptsächlich Männer, die die Richtung vorgeben.

Natürlich auch aus der Zeit heraus zu erklären, wobei damals wie heute die Anhängerschaft sehr gemischt ist, es gibt eine relativ ausgeglichene Geschlechterquote. Aber klar, die prominenten Gestalten sind Männer. Da scheint es eine höhere Anfälligkeit zu geben, was einerseits mit den Rollenmodellen wie Zarathustra oder Jesus zu tun, andererseits aber auch mit dem Trauma des empfundenen Machtverlusts. Corona war ja auch eher der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen gebracht hat, gegen diesen Machtverlust, der sich in den letzten Jahren gezeigt hat, zu mobilisieren. Das empfundene Trauma, als weißer Mann zum ersten Mal von außen markiert, fremdbezeichnet zu werden, oder die Erfahrung, dass irgendwie der Tagesschau-Sprecher nicht automatisch aussieht wie du selbst. Da spielen ganz viele narzisstische Irritationen eine Rolle. Die alten weißen Männer, die bisher immer dachten, dass sie das Sagen haben, merken: Wir sind halt auch nur eine Gruppe unter vielen, sie müssten sich arrangieren und wissen nicht, wie. Und dann noch eine Krankheit, gegen die man machtlos ist – kein Wunder, dass die maximale Selbstermächtigung des Ichs bei der Querdenken-Bewegung eine plausible Reaktion scheint. In den Zwanzigern hatte das andere Gründe, die waren alle auf die eine oder andere Art geschädigt, durch einen Systemzusammenbruch, durch natürlich auch die Erfahrungen im Krieg. Es ist aber natürlich eine Binse, dass Krisenzeiten solche Phänomene befeuern.

Du beschreibst in deinem Buch auch Momente, in denen linke, emanzipatorische Kunst plötzlich nach rechts oder in etwas Esoterisches kippt. Diese Kippmomente finde ich spannend, du zeigst das sehr anschaulich am Beispiel von Johannes Baader.

Baader ist eine Gestalt, die tatsächlich in ihrem Denken stetig nach rechts wandert. Er gilt den einen als der erste deutsche Medienkünstler, andere sehen ihn als eine Art Punk, und er selbst hat sich als Ober-Dada bezeichnet. Und dann als Präsident des Erdballs. Er ist zunächst tatsächlich vor allem mit Medieninterventionen gestartet, hat irgendwelche Pressemeldungen an Zeitungen geschickt, die das auch publiziert haben, zum Beispiel seine erfundene Todesmeldung  – sehr zum Ärger der Dada-Bewegung, die ihn eher als Spinner wahrgenommen hat.  Im Grunde hatte er einen psychopathologischen Background, er hat sich tatsächlich für Jesus gehalten. Und gleichzeitig war er ein Künstler, der damit spielt, dass er sich für Jesus hält. Ähnlich wie bei Haeusser war es ein doppeltes Spiel bei ihm, aber anders als Haeusser war er sich dessen bewusst. Baader ist dann in den frühen 1920ern mehr und mehr in dieses völkische Denken reingegangen, hat auch aufgehört, sich als Dadaist zu bezeichnen. Wobei er trotzdem noch absurde Dada-Aktionen durchgezogen hat, wie bei einer religiösen Querfront-Konferenz 1930, der Religiösen Woche in Hildburghausen, wo versucht werden sollte, eine neue deutsche Religion zu begründen – da ist er mit einer Propellermaschine eingeflogen, kurzer großer Auftritt im Thüringer Wald und wieder weg.

An Baader finde ich auch interessant, dass sein Kippen ins Völkische in der Rezeption oft ausgeblendet worden ist, seine Dada-Bücher z.B. in der Edition Nautilus erschienen sind, wo auch kürzlich zufällig ein weiterer Titel herausgekommen ist, der in deinem Buch eine Rolle spielt: Sag alles ab! vom Haus Bartleby. Anselm Lenz, der Kopf dahinter hat ja auch einen Weg in Richtung Querfront vollzogen.

Von ihm gibt es an Reichsbürger erinnernde Videos, wo die Polizei mit einem Demoverbot in der Hand bei ihm klingelt und er sie nicht als Vertreter seines Staates ansieht, gepaart mit einem lächerlichen Opfergehabe, das er vom ersten Tag an hatte, seit er sich als ein Querfrontidol präsentiert. Er hat zusammen mit Hendrik Sodenkamp diese Hygienedemos an der Volksbühne initiiert, die erste breiter wahrgenommene Corona-Protestbewegung dieser Fasson. Beide kommen aus dieser linken Theater-Bubble, wobei Sodenkamp auch schon mal fürs Rubikon geschrieben hat. Ich kenne auch Leute, die das erstmal interessant fanden mit diesen Demos, wobei es eigentlich nur zwei Demos gedauert hat, zu erkennen, was das eigentlich für eine Veranstaltung ist. In dieser Situation Anfang April 2020 wäre es auch aus meiner Sicht durchaus geboten gewesen, irgendwie linke Kritik an der Corona-Politik zu üben, von sozialer Gerechtigkeit über die Frage, wer welche Entscheidungslegitimität hat. Diesen Impuls hat Anselm Lenz mit seltsamen eso-messianischen Inhalten verbunden. Das Grundgesetz war eher ein Symbol, der Strohmann in einer pathetischen Performance. Es ging nicht um realpolitische Fragen.

Teil der Strategie von Lenz war ja auch, eine fiktive Person als Co-Organisatorin der Demos zu erfinden, Batseba N’Diaye, eine künstlerische Strategie anzuwenden, die dann wiederum ein bestimmtes Publikum adressiert.

Er hat eine schwarze Frau als Co-Organisatorin erfunden, um die rassismuskritische, intersektionale Linke anzusprechen. Und vermutlich auch um davon wegzukommen, dass es immer so eine Würstchennummer ist, die er da macht. Interessant, dass es so lange nicht hinterfragt wurde, wer N‘Diaye ist, dass der Skandal real ja auch ausblieb.

Der antiautoritäre Impuls, der schnell in Verschwörungsdenken kippt, scheint, auch vorangetrieben von den Corona-Protesten, so weit verbreitet wie lange nicht. Hast du dich auch mit dieser Thematik beschäftigt? Da geht’s ja auch um die „Wahrheit“.

Ich bin in den Neunzigern sozialisiert worden – klar, damals hatte man diese klassischen Verschwörungstheorien nicht so parat. Allerdings gab es damals absurd viele Magazine, die sich mit so UFOs und sowas auseinandergesetzt haben. Das ist heute komplett verschwunden, aber damals gab es Magazine, die über das Ungeheuer von Loch Ness oder irgendwelche von der US-Regierung versteckten Aliens berichtet haben, was mich Teenager total fasziniert hat. Das ist ja auch ein paranoides Weltbild, das dann durchaus das Fundament gelegt hat für den empfundenen Vertrauensbruch von 9/11. Und natürlich, auch wenn die Lebensreform nicht an dunkle Absprachen irgendwelcher Geheimorden glaubt, liegt hier durchaus eine Basis: Auch die bürgerliche Fleischfresserei fesselt die neu zu entdeckende Wahrheit, dass der Mensch frei ist.

Aber gerade der Antisemitismus, auf den sich ja viele der Verschwörungstheorien zuspitzen, ist ja durchaus älter als die Lebensreformbewegung.

Absolut, wobei es schon interessant ist, dass beide parallel im Kaiserreich zu Höchstform auflaufen. Offenkundig eine Gesellschaft, die in klaren Grenzen und Gegensätzen dachte. Aber generell, das ist für mich schon auch eine Lehre aus meiner Recherche: Es ist so fatal, wie wenig Geschichtsreflexion stattfindet an den Ecken, die Linke ganz selbstverständlich als ihr Eigenes sehen – Vegetarismus z.B., oder die Beschäftigung mit der Umwelt. Zwar hat sich mittlerweile rumgesprochen, dass etwa Demeter unschöne Verbindungen nach rechts hat und eine Geschichte der Anbiederung an die NSDAP. Aber dann fällt Menschen auf Demos nicht auf, dass ein Satz wie „Umweltschutz ist Heimatschutz“ eine Naziparole ist. Diese rechte Naturschutztradition in Deutschland ist komplett verdrängt worden ist, ebenso dass die Nazis z.B. Pioniere des realpolitischen Umweltschutzes waren. Das ändert nichts daran, dass saurer Regen scheiße ist und hunderte Tonnen toter Fisch im Fluss die Hölle, aber es gibt eine Furcht, sich innerhalb dieser Bewegung damit auseinanderzusetzen, die ihr, glaube ich, schadet. Man kann sich, auch wenn das jetzt ein bisschen esoterisch gedacht ist, durchaus fragen, ob die heutige Untätigkeit in Sachen Klimaschutz irgendwie twisted auch mit dieser fehlenden Aufbereitung zu tun hat.


Steffen Greiner, geboren 1985 in Saarbrücken, ist Kulturwissenschaftler, Journalist und Dozent. Er lebt in Berlin. Steffen Greiner leitet die Redaktion der Zeitschrift zur Gegenwartskultur »Die Epilog« und war Mitautor von »Liebe, Körper, Wut & Nazis. Wie wir beschlossen, uns alles zu sagen«, 2020 bei Tropen erschienen.

Bildnachweise:

Notgeld der Stadt Kahla (1921) mit Motiven zu Mucks „Sündenfall“: Von selbst - Privatbesitz, PD-Amtliches Werk, https://de.wikipedia.org/w/index.php?curid=2343124

Gustaf Nagel 1902: Von Autor/-in unbekannt - Eckehard Schwarz, Gustaf-Nagel-Förderverein, Arendsee, Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=5061262

Zeitungsannonce Lamberty: Von ? - Linse, Barfüßige Propheten, PD-Schöpfungshöhe, https://de.wikipedia.org/w/index.php?curid=2320688

Haeusser-Plakat: Von Ludwig Christian Haeusser - Original, Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=11829060

Friedrich Muck-Lamberty (Zeichnung): Von Tvwatch 16:05, 3. Mär. 2007 (CET) - Eigene Zeichnung, Bild-frei, https://de.wikipedia.org/w/index.php?curid=2320639

Rudolf Steiner in Wien, um 1882: Von Abbildung übernommen aus Wolfgang G. Vögele, Der andere Rudolf Steiner - Augenzeugenbrichte, Interviews, Karikaturen, 2005, S. 27, Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=1528443

Ida Hofmann-Oedenkoven, Lotte HattemerHenri Oedenkoven im Winter 1902–03: Von Autor/-in unbekannt - Ursprung unbekannt, Gemeinfrei, commons.wikimedia.org/w/index.php