Publikation Buchtipp: »Planet ohne Visum« von Jean Malaquais

Ein antifaschistischer Klassiker ist nun auf Deutsch erschienen. Rezension von Jonas Engelmann

Information

Ein Weggefährte der Enteigneten

Der Roman »Planet ohne Visum« von Jean Malaquais

Von Jonas Engelmann

»Die Formel zum Sturz der Welt haben wir nicht in Büchern gesucht, sondern auf Irrfahrten«, heißt es in Guy Debords letztem Film »In girum imus nocte et consumimur igni« (»Wir irren des Nachts im Kreis umher und werden vom Feuer verzehrt«) von 1978. Dieser Satz könnte auch als Motto über der Biographie von Jean Malaquais stehen, 1908 als Wladimir Malacki in ein verarmtes, säkulares jüdisches Elternhaus in Warschau geboren. »Die Enge seines Elternhauses, die Allgegenwart der Bücher, in denen sein Vater in jeder freien Minute und selbst am Abendbrottisch las, empfand er bald als erstickend«, schreibt Nadine Püschel im Nachwort des von ihr übersetzten Romans »Planet ohne Visum« (»Planète sans visa«), der 1947 in Frankreich veröffentlicht wurde und erst jetzt auf Deutsch vorliegt.

Mit 17 Jahren floh Malaquais vor der Beengtheit des jüdischen Viertels Muranów und dem Antisemitismus in Polen. Seine persönlichen Irrfahrten führten ihn nach Rumänien, in die Türkei, nach Palästina und Ägypten und schließlich nach Frankreich, das für die nächsten Jahre seine Wahlheimat wurde. »Ich hatte das Gefühl, dass sich in Polen das Ende der Welt abzeichnete, und so wollte ich das Leben in anderen Ländern kennenlernen.« Er sei, schreibt er später über seine Entscheidung, Polen zu verlassen, moralisch und intellek­tuell ein Landstreicher, ein Weggefährte der Enteigneten gewesen. Das ist Malaquais bis an sein Lebensende geblieben. Als »wurzelloser Kosmopolit« blickte er vom Rande der Gesellschaft mit kritischem Blick auf das Weltgeschehen.

Nach 1926 lebte er meist in Paris, bewegte sich im kommunistischen Milieu, hielt sich mit Gelegenheitsjobs als Bauarbeiter, Matrose, Tellerwäscher und Aushilfe in den Pariser Markthallen über Wasser und schuftete in einer Blei- und Silbermine in der Provence. Er begann, erste Erzählungen auf Französisch zu verfassen, und lernte Mitte der Dreißiger André Gide kennen, der ihn förderte und ­finanziell unterstützte; vorausgegangen war ein kontroverser Briefwechsel, in dem er Gide vorwarf, nicht zu wissen, was es heißt, sich durch körperliche Arbeit ernähren zu müssen. 1936 ging er nach Spanien, um in der Reihen der Miliz der revolutionär-sozialistischen POUM (Arbeiterpartei der Marxistischen Einheit), der zur gleichen Zeit auch George Orwell angehörte, gegen Franco zu kämpfen.

Im Mai 1939 erschien sein Romandebüt »Les Javanais«, das unter anderem von Trotzki in einer umfangreichen Rezension gelobt und mit dem wichtigen Literaturpreis Prix Renaudot ausgezeichnet wurde. Einen »vielsprachigen Chor einer eingeschworenen Gemeinschaft aus Heimatlosen« nennt Nadine Püschel den aus Malaquais’ eigenen Erfahrungen gespeisten Roman über eine Gruppe von Minenarbeitern in ­einem von Schließung bedrohten südfranzösischen Bergwerk. Die verschiedenen Perspektiven der aus zahlreichen Ländern geflohenen un­gelernten Arbeiter auf ihren von Arbeitskämpfen geprägten Alltag und die politische Weltlage stehen in dem Roman nebeneinander. Die Vielstimmigkeit, die realistische Sprache und der ungeschönte Einblick in eine dem literarischen Publikum unbekannte Welt machten den Erfolg des Romans aus.

Als das Buch im Dezember 1939 mit dem Prix Renaudot ausgezeichnet wurde, war Malaquais bereits in die französischen Armee eingezogen worden. Er kämpfte 1940 an der Front gegen den deutschen Vormarsch, ­geriet nach der Kapitulation Frankreichs in Kriegsgefangenschaft, konnte fliehen und gelangte nach Marseille in die freie Zone im Süden Frankreichs. Aus den wenigen Monaten, die er dort verbrachte, den Begegnungen mit russischen Exilanten, Widerstandskämpfern, jüdischen Flüchtlingen, amerikanischen Journalisten und vielen anderen, erwuchs sein Schlüsselroman »Planet ohne Visum«, der die Stimmung jener Zeit einfängt.

Malaquais verfasste das Buch hauptsächlich in Mexiko, wohin er im Oktober 1942 fliehen konnte, bevor die Nazis im folgenden Monat auch Südfrankreich besetzten und damit den Fluchtweg für zahlreiche in Marseille Gestrandete abschnitten. Als der Roman 1947 erschien, lebte Malaquais bereits in den USA. Anders als sein Debütroman erhielt »Planet ohne Visum« nur wenig Aufmerksamkeit und wurde auch kommerziell ein Misserfolg. Zuvor waren bereits ein Band mit Erzählungen und seine Kriegstagebücher erschienen, auch diese mit eher mäßigem Erfolg.

1953 publizierte er noch einen letzten Roman, »Le Gaffeur«, eine kafkaeske Parabel über den Verlust der eigenen Identität. Malaquais hatte sich mittlerweile aufs Übersetzen verlegt, unter anderem übertrug er »Die Nackten und die Toten« von Norman Mailer ins Französische. Außerdem arbeitete er als Dozent für Literatur an der New School für Social Research in New York City. Bis zu seinem Tod 1998 verfasste er keine ­weiteren literarischen Werke. Einzig eine Dissertation über Sören Kierkegaard, die er 1970 an der Pariser Sorbonne abschloss, erschien noch in Buchform. In seinen letzten Lebensjahren, die er wieder in Europa verbrachte, arbeitete er an Neuausgaben seiner Bücher, die in Frankreich als wichtige Wiederentdeckung eines Vergessenen gefeiert wurden.

»In meine Bücher spaziert man nicht so ohne Weiteres hinein«, hat Malaquais 1947 in einem Interview gesagt. Das gilt nicht zuletzt für seinen Emigrantenroman »Planet ohne Visum«, dessen Lektüre viel Konzen­tration erfordert. Die russischen Exilanten, die Geflüchteten im kollektiv geführten Bäckereibetrieb, ein amerikanischer Kriegskorrespondent, der im Namen einer Hilfsorganisation Ausreisevisa besorgt, Résistance-Kämpfer, Schmuggler und viele andere Figuren erhalten im Roman eigene Erzählstimmen, die sich immer wieder zu einem großen Lärm vermischen, der die Situation in der Hafenstadt Marseille jener Tage hörbar macht.

Bereits die ersten Sätze machen die Ambivalenz der Stadt deutlich, die zwar einen kosmopolitischen Geist atmet, da sie zur Durchgangsstation unzähliger vor dem Krieg und dem Nationalsozialismus geflohener Menschen wurde, unter deren Oberfläche aber auch die Gewalt und Korruption zunehmen: »Die in Jahrhunderten aufgestauten Ausdünstungen sämtlicher Menschengeschlechter schienen hier an die Oberfläche der Gegenwart zu treten, als wäre das Hafenviertel von Marseille die Sammelgrube aller Widerwärtigkeiten der Welt.« Die verschiedenen Milieus und Hintergründe der Figuren spiegelt sich in ihrem unterschiedlichen Sprachduktus. Zeitsprünge und wechselnde Perspektiven, innere Monologe und miteinander verschachtelte und sich durchaus auch widersprechende Erzählhaltungen erinnern an die Großstadtromane von Alfred Döblin oder John Dos Passos, wie auch Übersetzerin Nadine Püschel in ihrem Nachwort ausführt. Wie Dos Passos in »Manhattan Transfer« (1925), wo die Stimmung von New York anhand einzelner Lebensläufe eingefangen wird, ist es auch in »Planet ohne Visum« die Vielfalt an Lebensentwürfen und Schicksalen, die in ihrer Gesamtheit ein Bild von der Hafenstadt und von Frankreich unter deutscher Besatzung entstehen lässt.

»Rund zehn Freunde waren sie gewesen, die in Marseille gelandet ­waren, wie sie überall in ihrer hehren Heimat, dem in Zonen zerteilten, von Gefangenenlagern übersäten, mit Spitzeln durchseuchten Frankreich hätten landen können; sie hatten sich schon gekannt, bevor am Tag der göttlichen Panik zehn Millionen gepeinigte Seelen auf den Straßen des Landes davontaumelten«, heißt es über die späteren Zuckerbäckerei-Kollektivisten. Hinter der Fassade der Bäckerei werden sie eine illegale Druckerpresse betreiben und Sabotageakte planen. Sie alle sind »Schiffbrüchige auf der Suche nach Rettung«, wie es im Roman heißt; viele von ihnen stehen Tag für Tag in der Warteschlange der Abteilung für Visums- und Passangelegenheiten der Präfektur von Marseille und hoffen auf die Stempel und Formulare, die sie aus Vichy-Frankreich ins sichere Ausland bringen können. Über das Ehepaar Hermann und Liese Haenschel denkt der Beamte hinter dem Schalter: »Seit Jahren schon wanderten sie in ­einem Europa ­herum, das aus dem Bauch blutete, schleppten ihre Krampfadern und sein Asthma über­allhin mit, auf der Flucht aus Deutschland und Österreich und Tschechien und nun auch aus Frankreich, in ein Brasilien, aus dem ihre Söhne sie verzweifelt zu sich winkten«, bevor er eine rettende Unterschrift zur Ausreise fälscht.

Liese Haenschel ist nämlich vom deutschen »Kommissariat für Judenfragen« als Jüdin gestempelt worden; die Ausreise war jüdischen Personen schon Monate vor der Besatzung der freien Zone in Frankreich durch die Deutschen verboten. Die Kollaboration der Regierung Pétain in Vichy-Frankreich ermöglichte den Deutschen die Deportation zahlreicher Juden, die in den Süden Frankreichs geflohen waren. Einige der Razzien, bei denen ­Juden vor den Augen ihrer Nachbarn aus ihren Wohnungen geholt wurden, sind im Buch beschrieben: »Die vier Beamten zählen ihre Ausbeute durch, fast könnte man meinen, sie arbeiteten im Akkord, dann knattert der Bus los, um weiteren Fang zu machen. Einer nach dem anderen kehren die auf dem Bürgersteig versammelten Nachbarn in ihre Zimmer ­zurück, vielleicht ahnend, dass mit diesem Menschenraub ein Teil ihrer selbst verschwindet, verschluckt von der Nacht, die so viele feindliche Lande, so viele Massengräber birgt, unzählige Verheerungen.«

Viele der Figuren in »Planet ohne Visum« haben reale Vorbilder, wie etwa Aldous John Smith, jener Mann hinter dem Visa-Schalter. Vorbild für diese Figur war Varian Fry vom American Emergency Rescue Committee, der Jean Malaquais die Ausreise ermöglichte, ebenso wie André Breton, Claude Lévi-Strauss, Hannah Arendt, Alfred Döblin, Heinrich Mann und zahlreichen anderen. Im September 1941 wurde Fry aus Frankreich ausgewiesen. Der rus­sische Autor Victor Serge und sein Sohn ­Vlady tauchen im Roman auf (als Ivan und Youra Stépanoff), ebenso wie André Gide (als Steven Audry) oder Marc Chirik (als Marc Laverne), ein Freund von Malaquais, Kommunist und Mitgründer des International Communist Current.

Ihre Schicksale unterscheiden sich teilweise stark von den Biographien ihrer historischen Vorbilder, doch die politischen Perspektiven, für die sie stehen und die in langen ­Debatten ausdiskutiert werden, sind realistisch angelegt. Weniger die Handlung steht im Mittelpunkt als vielmehr Stimmungen, politische Debatten, linke Zerwürfnisse und Aufbrüche, die Verzweiflung der Exilanten und die Bedrohung durch die immer näher rückenden Deutschen. Doch auch ohne das Wissen um die historischen und biographischen Hintergründe liest sich der Roman als beeindruckendes Zeit­dokument, als durchkomponiertes Gesamtkunstwerk sowie als eine Hommage an die Stadt Marseille in all ihrer Schönheit und ihren Abgründen.

Jean Malaquais: Planet ohne Visum. Aus dem Französischen von Nadine Püschel. Edition Nautilus, Hamburg 2022, 664 Seiten, 32 Euro

Buchcover Jean Malaquais »Planet ohne Visum« (CC-Malaquais_Planet-ohne-Visum_c_Maja Bechert_125)
Der Autor Jean Malaquais (Bildquelle: Edition Nautilus: Malaquais_c_Tino-Picos)