»Er möchte wohl verweilen«
Paul Klee, Walter Benjamin und ihr Angelus Novus
von Jonas Engelmann
„Diesseitig bin ich gar nicht fassbar“, schrieb Paul Klee 1920 in der Zeitschrift Der Ararat. „Denn ich wohne grad so gut bei den Toten wie bei den Ungeborenen“. Diese „geistige Wirklichkeit“, die für den 1879 geborenen Maler in den Jahren des Ersten Weltkriegs immer zentraler wurde, war für ihn einerseits religiös konnotiert, andererseits aber auch jene Welt, die zeitgleich die Surrealisten als „Zwischenwelt“ interessierte: „Dorthin vermögen die Kinder, die Verrückten, die Primitiven noch oder wieder zu blicken.“ Diese Zwischenwelt war in den Bildern von Paul Klee auch bevölkert von Engeln, die sich das Geschehen auf der Erde betrachten, über 80 Zeichnungen, Aquarelle und Gemälde mit Engelsfiguren des 1940 verstorbenen Klee sind erhalten. Diese Engel seien ironisch und tragisch zugleich, hat sein Enkel Alexander Klee einmal angemerkt, sie seien nicht nur spirituell zu verstehen, sondern auch ein Mittel, Distanz zu wahren, den Blick auf das Weltgeschehen in der Schwebe zu halten.
1906 zog Paul Klee nach München, freundete sich mit Franz Marc und Wassily Kandinsy an und wurde Teil der Redaktion des einflussreichen expressionistischen Almanach Der Blaue Reiter. 1916 erhielt Klee seine Einberufung als Soldat, einen Tag, nachdem er vom Tod seines Freundes Franz Marc an der Front erfahren hatte. Parallel zu seiner Zeit als Soldat wurde er als Künstler bekannter, der Galerist Herwarth Walden stellte ihn 1916 und 1917 aus, in dieser Zeit begann Klee auch intensiver, sich mit der Figur des Engels zu beschäftigen. 1918 entstand der „Angelus Decendens“, ein farbenfroher Engel, der mit ausgebreiteten Flügeln zur Erde hinabsteigt und die Dunkelheit des Ersten Weltkriegs vertreibt, ein Gegenstück zum zwei Jahre später entworfenen, ungleich düsteren „Angelus Novus“, jener Engelsfigur im Werk Paul Klees, die alle anderen überragt, vor allem durch Walter Benjamins Interpretation des Aquarells als „Engel der Geschichte“. Die nur 31 x 24 Zentimeter große Aquarell-Zeichnung aus Tusche und Ölkreide ist dank Benjamins Auseinandersetzung zu einem der bekanntesten Werke von Paul Klee avanciert, das nicht mehr zu trennen ist vom Sturm, der „vom Paradiese“ her weht, der „sich in seinen Flügeln verfangen hat“, wie Benjamin zu dem Kunstwerk ausgeführt hat.
Hundert Jahre alt wurde das Aquarell „Angelus Novus“ 2020 und hat im Laufe dieser Zeit nicht nur Walter Benjamin inspiriert und seine Schriften geprägt, sondern auch auf seine späteren Besitzer und Bewahrer ausgestrahlt. Heute wird der Engel im Depot des Israel Museums in Jerusalem aufbewahrt und kann nur auf Anfrage betrachtet werden. „Das Bild beginnt sich zu zersetzen“, erklärte mir eine Museumsmitarbeiterin vor einigen Jahren im Fahrstuhl auf dem Weg in die Depoträume. Kein Wunder, dass das Aquarell nach hundert Jahren angegriffen ist, nicht viele Bilder tragen eine solch Kontinente übergreifende Geschichte in sich, wurden versteckt, verschifft und eingenäht ins Jackett über Grenzen geschmuggelt.
Walter Benjamin erwarb das Bild für 1.000 Reichsmark im Frühling 1921 in der Galerie Hans Goltz, als er seinen Freund Gershom Scholem in München besuchte. „Er brachte mir das Bild mit der Bitte, es aufzubewahren, bis er in Berlin, wo große persönliche Schwierigkeiten in seinem Leben eingetreten waren, wieder eine feste Behausung haben würde“, erinnerte sich Scholem in einem Essay 1972. Bis zum November 1921 hing es in Scholems Münchner Wohnung, und inspirierte ihn im Juli des Jahres zum Gedicht „Gruß vom Angelus“, das er Benjamin zum Geburtstag schickte: „Ich bin ein unsymbolisch Ding / Bedeute was ich bin / Du drehst umsonst den Zauberring / Ich habe keinen Sinn“. Dies hielt Walter Benjamin jedoch nicht davon ab, nach einem Sinn im Aquarell zu suchen und dem Bild eine weitere Bedeutung einzuschreiben. Schon lange vor dem 1940 verfassten Text Über den Begriff der Geschichte hatte er sich mit dem Aquarell beschäftigt, als „Meditationsbild und Memento einer geistigen Berufung“, wie Scholem erklärte. 1922 plante Benjamin sogar eine Zeitschrift mit dem Titel Angelus Novus, womit das Flüchtige der Gegenwart zum Ausdruck kommen sollte, wie er in einem Text über das nie realisierte Projekt ausgeführt hat: „Werden doch sogar nach einer talmudischen Legende die Engel geschaffen, um, nachdem sie vor Gott ihren Hymnus gesungen, aufzuhören und in Nichts zu vergehen. Daß der Zeitschrift solche Aktualität zufalle, die allein wahr ist, möge ihr Name bedeuten.“ Auch in verschiedenen kürzeren Texten der 1920er- und 30er-Jahre fand Klees Bild Erwähnung, insbesondere in Zeiten existenzieller Not kam Benjamin auf den „Angelus Novus“ zurück. Den Sommer 1933 verbrachte er, kurz bevor er sich im September endgültig entschied, nach Paris ins Exil zu gehen, auf Ibiza. „Ich pflücke Blumen am Rand des Existenzminimums“, schrieb er von dort in einem Brief. In dieser Situation zwischen den Orten blickte Benjamin auf sein Leben zurück und reflektierte ausgehend von Paul Klee im kurzen Text „Agesilaus Santander“ über seine Herkunft, seine jüdische Identität und sein Leben als Schriftsteller und setzte dabei den „Angelus Novus“ in den Kontext dessen, was er verloren hatte: „Der Engel aber ähnelt allem, wovon ich mich habe trennen müssen: den Menschen und zumal den Dingen. In den Dingen, die ich nicht mehr habe, haust er.“
Das Aquarell selbst musste Benjamin bei seiner Flucht aus Deutschland zurücklassen, erst 1935 konnte eine Freundin es von Berlin nach Paris bringen, wo Benjamin zwischen 1933 und 1940 an 13 unterschiedlichen Orten lebte und an seinem nicht vollendeten Passagen-Werk arbeitete. Nach Kriegsausbruch wurde er im Herbst 1939 für drei Monate in einem Internierungslager in Nevers festgehalten, nach seiner Rückkehr begann Benjamin, mit Unterstützung des mittlerweile in New York ansässigen Instituts für Sozialforschung seine Flucht aus Europa vorzubereiten und einen letzten Text zu verfassen: Über den Begriff der Geschichte. „Der Krieg und die Konstellation, die ihn mit sich brachte, hat mich dazu geführt, einige Gedanken niederzulegen“, schrieb er im April 1940 an Gretel Adorno. „Es gibt ein Bild von Klee, das Angelus Novus heißt. Ein Engel ist darauf dargestellt, der aussieht, als wäre er im Begriff, sich von etwas zu entfernen, worauf er starrt. Seine Augen sind aufgerissen, sein Mund steht offen und seine Flügel sind ausgespannt. Der Engel der Geschichte muss so aussehen“, heißt es in der neunten These in Über den Begriff der Geschichte. Ein „Engel der Geschichte“, der zwischen Vergangenheit und Zukunft festhängt: „Er möchte wohl verweilen, die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfügen. Aber ein Sturm weht vom Paradiese her, der sich in seinen Flügeln verfangen hat und so stark ist, daß der Engel sie nicht mehr schließen kann.“ Ausgehend von Klees Aquarell entwickelte Benjamin das Denkbild des „Engels der Geschichte“, das ihn zu Reflexionen über das Verhältnis von Geschichte, Tradition, Marxismus und Messianismus führte. Der Text verbindet eine Fortschrittskritik mit einer Kritik der Geschichtsphilosophie, einer Absage an die Idee eines „Weltgeistes“, der den Gang der Geschichte bestimmt, stattdessen entfaltet sich vor den Augen des „Engels der Geschichte“ eine „einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße schleudert.“ Erlösung aus der Katastrophe bringt, je nach Hintergrund der zahllosen Interpreten des Textes, ein Messias oder die Revolution: „Marx sagt, die Revolutionen sind die Lokmotiven der Weltgeschichte. Aber vielleicht ist dem gänzlich anders. Vielleicht sind die Revolutionen der Griff des in diesem Zuge reisenden Menschengeschlechts nach der Notbremse“, heißt es anderswo in Über den Begriff der Geschichte.
Als Benjamin im Juni 1940 gemeinsam mit seiner Schwester Dora nach Marseille aufbrach, um dort das von Adorno und Horkheimer organisierte Einreisevisum in die USA abzuholen, hatte er das Aquarell von Klee nicht im Gepäck. Der „Engel der Geschichte“ verblieb auch in Paris, als Benjamin aufgrund der verschlossenen Grenzen im September aufbrach, um über die Pyrenäen illegal nach Spanien zu gelangen. Aus Angst vor einer Auslieferung an die Deutschen nahm er sich in der Nacht vom 26. auf den 27. September 1940 im spanischen Grenzort Portbou das Leben. Der „Angelus Novus“ überdauerte die Zeit der deutschen Besatzung Frankreichs versteckt in der französischen Nationalbibliothek. Mitte der Dreißiger hatte Benjamin Georges Bataille kennengelernt, der damals Bibliothekar an der Nationalbibliothek war und Benjamin pornographische Bücher für seine Recherche zu einem Essay besorgte. Mit dem 1897 geborenen Schriftsteller, an dessen inoffiziellem „Collège de Sociologie“ Benjamin auch einen Vortrag halten sollte, verband ihn ein Interesse an der Grenzüberschreitung. In seinem Text über den Surrealismus hatte Benjamin etwa von der „Lockerung des Ich durch den Rausch“ geschrieben, nach der auch Bataille suchte. Als Benjamin 1940 die Stadt verließ, vertraute er Bataille seine Aufzeichnungen zum Passagen-Werk, persönliche Unterlagen sowie den „Angelus Novus“ an. Bataille versteckte alles in der Nationalbibliothek, doch scheinbar ohne sich alle Standorte zu notieren, denn noch 1981 entdeckte Giorgio Agamben dort verloren geglaubte Aufzeichnungen Benjamins, darunter viele Sonette und Gedichte. Das Aquarell und die Manuskripte übergab Bataille 1945 dem gemeinsamen Freund Pierre Missac, der sich bereit erklärt hatte, für die Verschiffung des Nachlasses von Benjamin an Adorno zu sorgen. Missac publizierte nach dem Krieg zahlreiche Texte zu Benjamin und verfasste kurz vor seinem Tod 1986 einen Essay zu den geschichtsphilosophischen Thesen, der in seiner assoziativen Struktur an Benjamins Herangehensweise erinnert, keine Texte der „Kontemplation, sondern im Gehen“ zu verfassen.
Als Missac das Material 1947 über die US-Botschaft in Paris zu Adorno nach New York bringen ließ, war noch nicht bekannt, dass Benjamin in einem Testament von 1932 Gershom Scholem, der 1924 in das britische Mandatsgebiet Palästina ausgewandert war, als Erben des Bildes eingesetzt hatte. Daher hing das Bild bis zu Adornos Tod 1969 in seiner Wohnung, zuerst in New York, später in Frankfurt. In einem Brief an Scholem schrieb Adorno einmal im Zusammenhang mit dem Bild: „Noch möchte ich hinzufügen, daß mich die Vorstellung von den allzu vergänglichen Engeln aufs tiefste und merkwürdigste berührt hat.“ Doch nicht nur der Engel hat ihn „berührt“, auch die mit dem „Engel der Geschichte“ verbundene Kritik der Geschichtsphilosophie Benjamins ist in seinem Werk spürbar, wenn er etwa gemeinsam mit Horkheimer in der „Dialektik der Aufklärung“ schreibt, die Vernichtungsfähigkeit des Menschen verspreche „so groß zu werden, daß tabula rasa gemacht ist. Entweder zerfleischt sie sich selbst, oder sie reißt die gesamte Fauna und Flora mit hinab, und wenn die Erde dann noch jung genug ist, muss auf einer viel tieferen Stufe die ganze chose noch einmal anfangen.“
1961 setzte sich Adorno mit Benjamins Sohn Stefan wegen des Bildes in Verbindung und bekam von ihm die Erlaubnis, das Bild bis zu seinem Tod zu behalten. 1969 kam es dann auf der Trauerfeier für Adorno im Hause Siegfried Unselds zu einem Eklat, als Scholem, der inzwischen das Testament von 1932 gelesen hatte, Stefan Benjamin um den „Angelus Novus“ bat. Dieser erkannte das Testament nicht an und Scholem bestand auf der Herausgabe des Bildes durch Gretel Adorno. Drei Jahre dauerte der Streit zwischen Benjamins Sohn und Scholem, währenddessen blieb das Bild in Gretel Adornos Frankfurter Wohnung. Erst als Stefan Benjamin 1972 starb, kam es zu einer Einigung: Unseld verständigte sich mit Stefan Benjamins Witwe auf eine Übergabe des Bildes. Anlässlich einer Feierlichkeit zum 80. Geburtstag Benjamins in Frankfurt war Scholem für den Vortrag „Walter Benjamin und sein Engel“ eingeladen, im Anschluss überreichte Unseld ihm das Aquarell. Scholem schmuggelte es schließlich eingenäht ins Futter seines Jacketts nach Israel: „Ich machte mir Sorgen wegen des israelischen Zolls. Ist dir klar, was ich dort hätte bezahlen müssen?“, lässt Carl Djerassi in seinem Theaterstück Vier Juden auf dem Parnass Scholem diesen bizarren Aspekt in der Geschichte des Bildes erklären. Seit 1989 befindet sich der „Angelus Novus“ im Israel Museum in Jerusalem. Dass er heute zu fragil ist, um ausgestellt zu werden, fügt dem zerbrechlichen Engel der Geschichte, den Walter Benjamin im Aquarell gesehen hat, ungewollt eine weitere Facette hinzu. Und dank des Zeitalters seiner technischen Reproduzierbarkeit ist das Kunstwerk keineswegs auf ein Dasein im Depot beschränkt, sondern heute so präsent wie niemals zuvor.
Bildnachweise:
Theodor W. Adorno (1964): Von Jeremy J. Shapiro - Cropped from File:AdornoHorkheimerHabermasbyJeremyJShapiro2.png, CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=5732061
Georges Bataille 1943: Von Autor/-in unbekannt 1943 - www.pileface.com/sollers/spip.php, Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=56533748
Gershom Scholem (1925): Von Autor/-in unbekannt - This image is available from National Library of Israel under the digital ID. 003800553 (003800553), Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=68140402
Paul Klee, Fotografie von Alexander Eliasberg, 1911: Von Alexander Eliasberg (1878–1924) - Thomas Kain/ Mona Meister/ Franz-Joachim Verspohl (Hrsg.): Paul Klee in Jena 1924. Der Vortrag. Minerva. Jenaer Schriften zur Kunstgeschichte, Band 10, Kunsthistorisches Seminar, Jenoptik AG, Druckhaus Gera, Jena 1999, ISBN 3-932081-34-X, S. 91., Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=12529534
Walter Benjamin, 1928: Von Photo d'identité sans auteur, 1928 - Akademie der Künste, Berlin - Walter Benjamin Archiv, Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=17162035
Angelus Novus (Paul Klee): Von Paul Klee - Paul Klee, Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=12635756