Publikation Pop & Politik III: »Ist das noch Bohème oder schon Unterschicht?«

Ein Essay von Jonas Engelmann über Klassismus und Pop

Information

ABBA – Money, Money, Money (Cover, Melba – 45. X. 140149)

»Ist das noch Bohème oder schon Unterschicht?«

Klassismus und Pop

Jonas Engelmann

»A working class hero is something to be«

John Lennon

„Ich habe keinen Hass auf die Reichen, ich möchte ihnen nur ein bisschen gleichen“, singen Superpunk 2001, „ich bin nicht böse geboren, ich wollte nur neue Zähne für meinen Bruder und mich“. Im Song »Auf ein Wort Herr Fabrikant« versucht der Protagonist einen Fabrikanten über dessen zwielichtige Geschäfte zur Rede zu stellen, der ihn mit den Worten „Keine Zeit“ abwimmelt, woraufhin ihm der Kragen platzt: »Sie machten einen Psychopathen aus ihm, die machten ihn zum Idioten./Die herrschende Klasse zu schlagen ist streng verboten/Aus einem einfachen Kraftfahrer, der die Geschichte nicht ertrug,/wurde über Nacht der Mann, der den Fabrikanten schlug.« Nur selten werden Diskriminierung und Ausgrenzung durch Klassenverhältnisse in der Popmusik so explizit formuliert wie bei den Hamburger Soul-Punks, auf vielfältige Weise zieht sich das Themenfeld von Klassismus und Antiklassismus jedoch durch die Geschichte der Jugend-, Sub- und Gegenkulturen des 20. Jahrhunderts. Das Spektrum reicht von Billy Braggs Hymnen auf die Gewerkschaften bis zu ABBA, die 1976 singen: »I work all night, I work all day,/to pay the bills I have to pay./Ain’t it sad./Money, money, money, must be funny,/in a rich man’s world.« Die drei angeführten Beispiele zeigen die Komplexität des Themas: neben der inhaltlichen Ebene muss auch die Sprecherposition mit einbezogen werden. Sind es VertreterInnen der bürgerlichen Mittelschicht, die sich mit den Problemen der „einfachen Kraftfahrer“ solidarisieren, ist es ein Autodidakt ohne Hochschulstudium wie Bragg, der über das eigene Leben singt, oder sind es Popstars wie ABBA, die ihrem Publikum den Traum, der Beengtheit der eigenen Klasse zu entkommen, in den Mund legen?

Superpunk (Foto: Melle Maecker)

Klassismus in der Popkultur kann in Gänze an dieser Stelle nicht durchdrungen werden. Es sollen jedoch einige Schneisen durch das Popkulturdickicht des 20. Jahrhunderts geschlagen werden, die Schlaglichter auf das Verhältnis von Klassismus und Pop der vergangenen 50 Jahre werfen.

»I belong to the Beat Generation« – Subkultur und Klassenhintergrund

»Der Beatnik kommt aus dem Mittelstand und hätte sich vor fünfundzwanzig Jahren der kommunistischen Jugendbewegung angeschlossen. Heute zieht er es vor, ganz einfach nicht zu arbeiten«, notierte Norman Mailer 1957 in seinen Gedanken zu Hipstern und Beatniks, den ersten jugendlichen Subkulturen im heutigen Verständnis. Auch wenn man die Zeit weiterdreht und von der Beat Generation über Flower Power, Punk und Techno weiter in die Gegenwart schreitet: Popkultur war immer von Abgrenzungen angetrieben. Abgrenzungen von der Elterngeneration, von anderen Subkulturen und deren Habitus, von den Erwartungen der Gesellschaft oder den Zwängen der sozialen Zugehörigkeit – egal ob sich die kulturellen Protagonisten nun Hippies, Teds, Mods, Punks, Raver oder Rapper nannten.

Die verschiedenen Subkulturen haben eigene Codes entwickelt, eigene Sprachen und Rituale, Stile und, im Zentrum: eine eigene Musik. Songtexte und Musik dienen in unterschiedlicher Ausprägung als Identifikationsmoment, als Mittel der Abgrenzung, als Beschreibung von Lebensverhältnissen und Utopien oder als Ort der Reflexion. Pop-, Sub- und Gegenkulturen sind Spiegel gesellschaftlicher Verhältnisse, insbesondere ökonomischer Verhältnisse.

Popkultur kann zum Fluchtort werden, um den eigenen beengten Verhältnissen zu entkommen. Diese Form von Eskapismus findet sich in der Disco- oder Rave-Szene auch in den Songtexten thematisiert: »In spite of destruction/Life can be fun/A walk in the park, a trip in the dark/I`m getting away, escaping today«, singt sich beispielsweise 1979 Nick Strater aus dem Alltag fort. Von Disco über Techno bis zum Dubstep und Jungle der Gegenwart: der Eskapismus richtet sich dabei an alle sozialen Klassen.

Das Bedürfnis nach einer solchen Flucht aus den sozialen und ökonomischen Realitäten ist je nach Schichtzugehörigkeit der Jugendlichen anders verortet. Jugendliche der unteren Mittelschicht und Arbeiterklasse versuchten primär der Ausweglosigkeit der eigenen Klassenzugehörigkeit zu entfliehen, der erfahrenen Determiniertheit und sozialen Undurchlässigkeit der Gesellschaft. Nicht zufällig entwickelten sich die neuen sozialen Räume, Discotheken und Clubs, in einer Zeit der gesellschaftlichen Umwälzungen, die Unsicherheiten unter Jugendlichen entstehen ließen. Ursprünglich als Freiräume der schwulen Subkultur in den USA entworfen, boten sie nach der Öl- und Wirtschaftskrise, der Watergate-Affäre und anderen politischen Ereignissen der Siebziger allen Jugendlichen einen Zufluchtsort. Diese enge Verknüpfung von politischen Entwicklungen und kulturellen Reaktionen zieht sich bin in die Gegenwart durch die Popkultur. Auch als sich Mitte der Achtziger in Detroit Techno entwickelte, war das Umfeld entscheidend: Detroit hatte seit den späten Sechzigern unter dem Bedeutungsverlust der dort ansässigen Autoindustrie, mit Bevölkerungsschwund und hohen Kriminalitätsraten zu kämpfen. Detroit Techno, geprägt vor allem von den schwarzen Einwohnern der Stadt, galt als trotziges und gleichzeitig eskapistisches Gegenmodell zu Arbeitslosigkeit und der doppelten gesellschaftlichen Ausgrenzung durch Rassismus und Klassismus.

In diesen Formen elektronischer Tanzmusik fanden sich auch Jugendliche der Mittel- und Oberschicht wieder, die sich darüber von Erwartungen der Gesellschaft wie auch der Eltern abgrenzten, zumindest temporär. Allerdings spielten für diese Milieus andere parallel entstehende Subkulturen eine wichtigere Rolle. Während die Akteure von Disco und Techno sich hauptsächlich aus marginalisierten gesellschaftlichen Gruppen zusammensetzten, bot die zeitgleich entstehende Punkszene Räume an, in denen sich vor allem Jugendliche der Mittelklasse wiederfanden.

Und so entpuppen sich die Jugendkulturen des 20. Jahrhunderts als strukturell klassistisch: Obwohl sich die Grenzen nicht immer trennscharf ziehen lassen und manchmal sogar innerhalb von Subkulturen selbst verlaufen – man denke an die Fehde zwischen Oi! Punk und Art-Punk –, sind sie doch alle geprägt von gesellschaftlichen Milieus. Norman Mailer hatte es bereits für die Beat Generation festgestellt: der Eskapismus von Jugendlichen aus der bürgerlichen Mittelschicht entpuppte sich ost als ein »on the road« für wenige Jahre, ein Ausstieg auf Zeit, nach der die Rückkehr in die Mitte der Gesellschaft möglich war. Bereits in den Siebzigern untersuchte ein Forscherteam um Stuart Hall dieses Phänomen und stellte fest, dass Arbeiter-Subkulturen dazu tendieren, klar zwischen Schule, Arbeit, Familie etc. und der zur Verfügung stehenden arbeitsfreien Zeit zu unterscheiden. Subkultur bedeutete hier vor allem Gestaltung von Freizeit, die Aneignung der Umwelt, von Disco, Fußballplatz, Straße. In den Subkulturen, die von Angehörigen der Mittel- und Oberschicht dominiert waren, bildete sich dagegen eine Gegengesellschaft. Von den Beatniks über die Hippies bis zu Punk wurden Alternativen zur dominanten Kultur erprobt: neue Formen des Zusammenlebens, von Beziehungen und Arbeitsverhältnissen. Diese Alternativgesellschaften definierten nicht nur die Freizeit dieser Jugendlichen und jungen Erwachsenen, sondern deren gesamte Lebenswelt. Während all diese Kulturen in ihrer Verweigerungshaltung angeeckt sind, zeigte doch die unterschiedliche gesellschaftliche Wahrnehmung klassistische Aspekte: Das aggressiv klassenbewusste Auftreten von Arbeitersubkulturen, etwa Rocker, Fußballhooligans oder Skinheads, wurde mit staatlichen Mitteln bekämpft, die Gegenkulturen der Mittelschicht dagegen als tendenziell politische Bewegungen interpretiert, denen mehr Toleranz entgegenkam.

Diese Toleranz war auch Teil des »langen Marschs des Neoliberalismus« (Stuart Hall): Die vermeintliche Delinquenz von subkulturellen Jugendlichen wurde von den AkteurInnen aus den oberen gesellschaftlichen Schichten im Sinne der neoliberalen Ideologie umgemünzt. Das »Do It Yourself« der Punkszene bereitete wunderbar auf die erwartete Flexibilität in der aktuellen Arbeitswelt vor und die in der Szene normale Selbstausbeutung ließ prekäre Beschäftigungsverhältnisse als eine Normalität erscheinen.

„I want to live like common people“ – Zum Beispiel Großbritannien
Pulp: Common People (Cover, Island Records – 854329-2)

Laut einer Statistik hatten im Jahr 2010 über 60 Prozent der britischen KünstlerInnen in den Top Ten eine Privatschule besucht, zwanzig Jahre zuvor waren es nur ein Prozent der MusikerInnen. Es hat sich also etwas Grundsätzliches geändert in Großbritannien, wo Bands aus der Arbeiterklasse und der unteren Mittelschicht eine lange Tradition haben: von den Kinks über David Bowie, Roxy Music, Kate Bush, The Smiths bis hin zu den Pet Shop Boys.

Punk, um an einem Beispiel zu bleiben, konnte seine politische Schärfe auch aus dem Grund entwickeln, weil er Menschen aus der Arbeiterklasse und der Mittelschicht vereinte. Eine zentrale Rolle für diese Vernetzung waren die staatlichen Kunsthochschulen, die sich durch einen niedrigschwelligen Zugang gerade für Jugendliche aus der Arbeiterklasse auszeichneten. Dadurch entstand bei Bands wie Crass, The Clash und anderen ein Bewusstsein für die Probleme der Arbeiterklasse und für klassistische Ausgrenzungen. Weil jedoch die sozialen Sicherungen der Nachkriegszeit unter der Regierung Thatcher erodierten und der zunehmende Abbau staatlicher sozialer Leistungen Menschen aus den unteren Schichten die Möglichkeiten raubte, am kulturellen Leben teilzuhaben, sowohl als Konsument wie auch als Akteur, löste sich diese Verbindung im Laufe der Achtziger. Die Solidarität vieler Punkbands mit dem Bergarbeiterstreik 1984/85 und die Niederlage der Streikenden läutete nicht nur den Bedeutungsverlust der Gewerkschaften und der Arbeiterklasse ein, sondern auch das Ende dieses engen Bündnisses, das Punk geschmiedet hatte.

Zehn Jahre später erfolgte im Zuge des Britpop-Booms ein letzter musikalischer Gruß aus der Arbeiterklasse, bevor sie mit dem Ende dieses kurzlebigen Musikphänomens endgültig aus der kulturellen Wahrnehmung verschwand. Das im von Britpop geschnürte Knäuel klassistischer Zuschreibungen, Abgrenzungen und Selbstwahrnehmungen lässt sich am Beispiel dreier zentraler Bands entwirren: Blur, Oasis und Pulp. Pulp bewegten sich dabei immer am Rande des medialen Zirkus und kommentierten das Geschehen von dieser Beobachterposition aus. Die Sheffielder entstammten dem dortigen Arbeitermilieu, Sänger Jarvis Cocker studierte Mitte der Achtziger in London und erklärte später in einem Interview, er habe sich nie als Vertreter der Arbeiterklasse gefühlt, bis er beim Studium seine Mittelklasse-KommilitonInnen und ihre Privilegien näher kennengelernt habe. Während Pulp ihren Arbeiterbackground subtil in ihren Songs verhandelten, inszenierten Oasis und Blur einen medial ausgetragenen Konflikt, der hauptsächlich auf die Außenwahrnehmung ihrer Herkunft abzielte, auf Fragen der Echtheit, der Authentizität. Während Oasis auf ihren Arbeiterklassenbackground wertlegten und diese Herkunft auch in ihrer von klassischen Rockstrukturen geprägten Musik gespiegelt sehen wollten, galten Blur in ihren Augen als Mittelschichtsjungs, die sich der Arbeiterklasse durch das künstliche Sprechen im Cockney-Dialekt anbiedern wollen. Blur dagegen spielten mit klassistischen Einstellungen der Oberschicht, beispielsweise in ihrer Single »Charmless Man«, in der die Überheblichkeit der teuer ausgebildeten Oberschicht vorgeführt wird, sowie deren Erwartungshaltung, durch gesellschaftliche Beziehungen ließe sich auch Respekt erwerben. Pulp wiederum reflektierten in ihrem Song »Common People« die Faszination der Oberschicht für die Arbeiterklasse. Die Protagonistin will sich darin von Sänger Cocker erklären lassen, was die »einfachen Menschen« auszeichne: »I want to live like common people/I want to do whatever common people do«. Er versucht es ihr zu beschreiben – »Pretend you've got no money«, »Pretend you never went to school« –, doch kommt zu dem Schluss, dass sie die Klassenschranken niemals überwinden wird: »You will never understand/How it feels to live your life/With no meaning or control/And with nowhere left to go«. Ironischerweise war die Arbeiterklasse, von der die Band in diesem Song spricht, zu diesem Zeitpunkt bereits nicht mehr existent, zumindest nicht mehr im Sinne eines ökonomisch-politischen Zusammenhangs. Die Differenz bestand nun zwischen den „Habenichtsen und den Wohlhabenden“, wie Pulp es in ihrem Song »I Spy« formulierten.

Xi WEG from Poitiers, France, CC BY 2.0 <https://creativecommons.org/licenses/by/2.0>, via Wikimedia Commons (https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Sleaford_Mods_-_Less_Playboy_is_More_Cowboy_4,_Le_Confort_Moderne,_Poitiers_(2013-06-08_20.01.18_by_Xi_WEG).jpg)

Die unorganisierte, machtlose Klasse der Callcenter-Angestellten, Restaurant-Kräfte und in anderen prekären Dienstleistungsbereichen Beschäftigten wurde zeitgleich mit einem neuen Begriff belegt: »Chavs«, auf Deutsch in etwa »Proll«. Owen Jones hat sich dieser neuen Unterschicht in einer Studie angenommen, in der er die mit dieser abgehängten Arbeiterklasse verbundenen Klischees und Stereotype untersucht. Sie wird als faul, kriminell und dumm angesehen, auch von den letzten VertreterInnen der Arbeiterklasse, die eine Verbindung zu den »Prolls« weit von sich weisen. Auf diese Problematik machen wiederum aktuelle britische Bands wie Sleaford Mods aufmerksam, die von JournalistInnen als »wichtigste popkulturelle Stimme der Arbeiterklasse« beschrieben wurden, aber in ihrer Kritik an Klassismen, auch den Abgrenzungen der Arbeiterklasse von der Unterschicht, zwischen allen Stühlen sitzt und maximal die Stimme von Jason Williamson und Andrew Fearn, den beiden Bandmitgliedern, darstellt. In Songs wie »Jobseeker«, einem fiktiven Gespräch zwischen Sänger Williamson und seinem Arbeitsvermittler, spielen sie mit vermeintlichen Attitüden des arbeitsunwilligen Chavs, zeigen aber in diesem Spiel die Mechanismen auf, über die klassistische Diskriminierungen funktionieren.

»Doch dann ist es zu spät« – Klassismus in den Charts
Von Christina Zück - von Christiane Rösinger per Ticket:2012032510003136, CC BY-SA 3.0, commons.wikimedia.org/w/index.php

Nicht nur im britischen Punk, Post-Punk, Indie und Britpop wird Klassismus thematisiert. Wie das einleitende Beispiel von ABBA gezeigt hat, finden Songs, die klassenbezogene Ausgrenzungen benennen, auch in den Charts statt. So sang Peter Sarstedt 1969 in »Where do You Go to My Lovely« von dem Versuch einer Vertreterin der Arbeiterklasse, die Grenze ihres Milieus nach oben hin zu überschreiten, wo sie eine angesehene Ausbildung genießt und wichtige Personen kennenlernt. Abends im Bett jedoch holt ihre Herkunft sie wieder ein: »They say that when you get married/It'll be to a millionaire/But they don't realize where you came from«.

Die Überwindung dieser Klassengrenzen hat immer wieder die Popmusik inspiriert. In »Uptown Girl« von 1983 singt Billy Joel von der Beziehung zwischen einem »Uptown Girl«, das die Welt der Upper Class satt hat und sich der Liebe zu einem »Downtown Boy« hingibt – im zugehörigen Musikvideo inszeniert sich Joel als Automechaniker. Die Liebe als Möglichkeit der Überwindung von Klassengrenzen oder die Unmöglichkeit von Liebe aufgrund von Klassenzugehörigkeiten werden in unzähligen Popsongs thematisiert. »Du liebst ihn nur, weil er ein Auto hat/und nicht wie ich ein klappriges Damenrad« singen ironisch Die Ärzte 1984 in »Zu Spät«. Dass die Grenzen zwischen der Selbst- und Fremdwahrnehmung fließend sind, betont dagegen Christiane Rösinger in ihrem Song »Wer wird Millionär« von 2006, wenn sie über ihr eigenes prekäres Leben als Musikerin fragt: »Ist das noch Boheme oder schon die Unterschicht«?

Während im Pop auf sehnsuchtsvolle oder ironische Weise um das Überschreiten von Klassengrenzen gerungen, die Liebe als Moment der Außerkraftsetzung klassistischer Abgrenzungen herbeigesehnt wird, betont die Geschichte der Rockmusik die Unflexibilität der eigenen Herkunft. Hier steht Authentizität im Vordergrund, das Bild des hart arbeitenden Musikers ist angelehnt an das Idealbild des Mannes aus der Arbeiterklasse. Statt über klassistische Ausgrenzungen zu reflektieren, steht ein Stolz auf den eigenen Backgrund im Vordergrund. Bei Bands wie den Deutsch-Rockern von Haudegen gehört dieser Arbeiterstolz zu einem Teil der Inszenierung, sie treten in typischer Arbeitskleidung auf. Vom politischen Bewusstsein einer Arbeiterbewegung ist in solchen Inszenierungen kaum mehr etwas übrig, jeglicher politische Überbau ist abgestreift und reduziert auf die Verklärung von harter Männlichkeit und das Gerippe eines Bewusstseins vom Leben des »kleinen Mannes«, das geprägt ist von »Blut, Schweiß und Tränen«, wie Haudegen auf ihrer gleichnamigen Albumtrilogie von 2017 singen: »Das Leben hat mir nie etwas geschenkt, ich hab verlorn doch hart gekämpft«.

Viele Bands der »neuen« Deutschrock-Szene zeichnen sich durch diese Verklärung des einfachen Mannes unter Ausklammerung des Arbeiters als politisches Subjekt aus, und präsentieren damit einen neuen Konservatismus in der Popkultur, der sich gerade im Stolz darauf äußert, keiner von »denen da oben« zu sein, keiner der »Gutmenschen und Moralapostel«, wie Frei.Wild singen. Die Band aus Südtirol kombiniert eine nach rechts offene Tradition von Arbeiterkultur, die sich bereits im Oi!Punk und der Skinhead-Bewegung zeigte, mit Werten wie Religion, Patriotismus, Männlichkeit, Volk und Brauchtum. Zumindest strukturell lassen sich in dieser Form der Abgrenzung nach oben rechte Tendenzen ausmachen, der Heimatbegriff von Bands wie Frei.Wild und anderen ist ausschließend und basiert auf Ideen von Blut und Boden. Auch wenn sich Frei.Wild gegen Rechts positioniert haben, ist der Schritt vom strukturellen Rassismus zu einer Kombination rassistischer und klassistischer Ausschlussmechanismen – der Vorwurf, die Politik habe Geld für Flüchtlinge, jedoch nicht für »deutsche« Arbeitslose, Obdachlose etc. – nur ein kleiner. Dieser als Klassismuskritik getarnte Rassismus findet sich am rechten Rand der DeutschRock-Szene, ist jedoch eine Entwicklung, die man beobachten sollte.

Geradezu harmlos nehmen sich dagegen die Abgrenzungen nach obem bei aktuellen Bands wie der Antilopen Gang aus, die ironisch gebrochen von Studenten singen, die ihnen in ihrem Habitus auf die Nerven gehen: »Ihr lebt abgeschottet und zurückgezogen/Ihr wisst nichtmal was Arbeit bedeutet, ihr Idioten/Was bringt es bitte diese weltfremden Bücher zu lesen/und zu versteh'n?/Ihr könnt noch nicht mal Glühbirnen wechseln«, lautete die Kritik der Antilopen Gang im Song »Fick die Uni« von 2009. Angesichts der Tatsache, dass sie 2014 mit »Beate Zschäpe hört U2« einen der reflektiertesten Songs zu NSU, neuem Patriotismus und Alltagsrassismus veröffentlichten, ist die klassistische Ansage von 2009 wohl vor allem als Spiegel von Ansichten der HipHop-Szene zu lesen, die sich immer wieder vom akademischen Milieu abgewendet und mit den Abgehängten der Gesellschaft identifiziert hat.

»I guess I got no choice« – Klassismus und Rassismus im HipHop
Fuzheado, CC BY-SA 4.0 <https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0>, via Wikimedia Commons (https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Pulitzer2018-portraits-kendrick-lamar.jpg)

Während im Rock die Authentizität im Mittelpunkt steht, ist das Äquivalent dafür im HipHop die Realness. Bereits einer der ersten politischen Tracks der HipHop-Geschichte, »The Message« von Grandmaster Flash & the Furious Five, analysierte 1982 die soziale Ausgrenzung als von klassistischen Faktoren bestimmt: »I can’t take the smell, can’t take the noise/Got no money to move out, I guess I got no choice«. Auch zwanzig Jahre nach Grandmaster Flash hat sich daran nur wenig geändert, so rappte Mos Def zu Beginn des neuen Jahrtausends in seinem Song »Hip Hop« vom »sovereign state of the have-nots«, den die Schwarzen in den USA durch soziale Ausgrenzung und Rassismus anzuerkennen gezwungen seien. Und auch wenn Kanye West 2013 anmerkte, das Hauptproblem für Schwarze in den USA sei nicht länger der Rassismus sondern der Klassismus, bleibt das Zusammendenken dieser beiden Ausgrenzungsmechanismen in vielen HipHop-Tracks bis heute zentral. Kendrick Lamar rappte 2015 in »Institutionalized« davon, durch seinen Erfolg als Beweis missbraucht zu werden, dass Rassismus und Klassismus überwunden werden können: »I’m trapped inside the ghetto and I ain’t proud to admit it/Institutionalized, I Keep runnin’ back for a visit«. Das Problem von Rassismus und Klassismus wird in seinen Augen von der Gesellschaft, die Ausgrenzungen produziert, zurück auf das Individuum projiziert. Diese Reflexion ist allerdings nicht allen HipHop-KünstlerInnen eigen, oftmals geht es um reine Abgrenzungen und die Betonung, »real« geblieben zu sein, die eigene Herkunft nicht vergessen zu haben. »I'm still Jenny from the block/Used to have a little now I have a lot/No matter where I go/I know where I came from/From the Bronx«, singt Jennifer Lopez 2002 in »Jenny From the Block«.

Insbesondere im Gangster Rap treten Fragen des Klassismus in den Mittelpunkt. Songs wie »Fuck tha Police« von N.W.A. beschrieben 1988 die Problematik, dass Schwarze, die etwas wohlhabender erschienen, in den Augen der Polizei als Drogendealer gebrandmarkt wurden. Mit dieser Benennung klassistischer und rassistischer Zuschreibungen ging aber auch eine Abgrenzung der Band von jenen einher, die diese Zuschreibungen setzten und in den oberen Gesellschaftsschichten verortet wurden. Zwar stammten Teile der Band selbst aus der schwarzen Mittelschicht, trotzdem ging es im Gangster Rap um eine Romantisierung des Lebens als sozialer Underdog, als sozial Ausgegrenzter in einer rassistischen Gesellschaft, und um die Dämonisierung der oberen Klassen.

Ähnliche Formen der Abgrenzungen und Verklärungen finden sich auch im deutschen Pendant des Gangster Rap. Und ähnlich wie im DeutschRock finden sich auch im Deutsch-Rap über klassistische Zuschreibungen Tendenzen einer Öffnung nach rechts. »Leute sagen, Fler ist Proll/Leute sagen, Fler ist Nazi/ Mir egal, sagt was ihr wollt, Hauptsache der Rubel rollt« rappt etwa der Berliner Fler in »Deutscha Bad Boy«. Er fühle sich »fremd im eigenen Land«, wie sein Album von 2008 betitelt ist, und erklärt in seinem Song »Ich bin Deutscha« seinem offenbar nicht-deutschen Gegenüber: »Ich bin Deutscha, du hast keine Identität/Du bist ein Niemand, okay Junge, ich zeig dir wie es geht«.

Auch ohne rechte Tendenzen finden sich im Deutschrap positive Bezugnahmen auf das Bild des „Proll“: Bushido rappte 2006 in »Sonnenbank Flavour«: »Laptop, Rapgott, Lederjacken-Prollschiene/Ersguterjunge, yeah mein Label eine Goldmine«. »Ersguterjunge« ist der Name von Bushidos Plattenlabel, hinter seinem Image als Gangster verbirgt sich ein erfolgreicher Geschäftsmann. Proll-Sein meint bei Bushido einen performativen Akt und keine Identität, er inszeniert sich als »Proll«, führte im zugehörigen Video gleichzeitig seine Luxusgüter vor.

Im Track »Straßenjunge« von Sido, erschienen 2006, machte sich der Rapper zunächst von diversen Zuschreibungen frei, um dann die eigene Identität selbstbestimmt zu definieren. »Ich bin kein Gangster, kein Killer, ich bin kein Dieb/Ich bin nur ein Junge von der Straße«, rappt er einerseits, um dann zu erklären: »Ich bin ein Ghetto-Kid mit Bierfahne und Adiletten/Ich bin ein asozialer Proll und Prolet/Einer, den sie nicht wollen beim Comet/weil ich zu gerne das ausspreche, was keiner sagt«. Die positive Bezugnahme auf die neue Unterschicht, die Identifikation mit den sozial Abgehängten, setzte den Rahmen für das eigene Image des auch politisch Marginalisierten, der Wahrheiten ausspricht, die andere nicht hören wollen. Auch diese Selbstwahrnehmung kann angesichts der lauter werdenden »Lügenpresse«-Rufe und dem verschwörungstheoretisch untermauerten Misstrauen gegenüber »denen da oben« als mindestens problematisch angesehen werden.

Sven Volkens, sven.volkens@wikipedia.de, CC BY-SA 4.0 <https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0>, via Wikimedia Commons (https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Romano-Deutschpoeten-2018-12b.jpg)

Doch auch die (Selbst-)Ironie hat ihren Weg in den aktuellen deutschen Rap gefunden. In »Brenn die Bank ab« stellt Romano 2015 Klischees der Ober- und Unterschicht gegeneinander und fordert ironisch zum revolutionären Akt auf: »Weiße Strände/Reich geboren/Schöne Hände/Gutes Koks/Fette Klunker/Private Bunker/Weiße Zähne/Gemachte Titten/Scheine zählen/Teure Schlitten//Keine Kohle, Keine Arbeit, Keine Wohnung, Keine Liebe/Flaschen sammeln, Arbeitsamt, Keine Zukunft, Kein Respekt./ Brenn die Bank ab, fackel die Banken ab!« Die Verbindung von Klassismus und Pop ist nach wie vor einem stetigen Wandel unterworfen.