Publikation Erinnerungsräume. Ein Gespräch mit der Künstlerin Michaela Melián

Wir dokumentieren ein Gespräch mit der Künstlerin Michaela Melián über Erinnerungspolitik, Gedenkorte und ihr Projekt Memory Loops

Information

Copyright: Michaela Melián & Surfacegrafik.de | Memory Loops 2010

Erinnerungsräume

Michaela Melián im Gespräch mit Jonas Engelmann

Als die »Vergegenwärtigung von Geschichte« anhand einer Landschaft wird Michaela Meliáns Arbeit Triangel im begleitenden Katalog umschrieben, in der unterschiedliche historische Ebenen der Kulturlandschaft Lüneburger Heide zu einer vielschichtigen Biographie dieses Ortes verwoben werden. Auch Meliáns Projekt Föhrenwald nähert sich als multimediale Installation einem historisch besetzten Ort: Aus der Mustersiedlung »Föhrenwald« (heute Waldram) wurde zunächst ein nationalsozialistisches  Zwangsarbeiterlager, dann eine Siedlung für jüdische Displaced Persons und schließlich eine Siedlung »heimatvertriebener« deutscher Familien; aus dem »Adolf-Hitler-Platz« der »Roosevelt Square« und schließlich der »Seminarplatz«. Diese Form der Erinnerungsarbeit, die Kontinuitäten betont, statt historische Brüche in den Mittelpunkt zu stellen und die unterschiedlichen historischen Schichten aufeinander bezieht, findet sich auch Meliáns Projekt Memory Loops, bei dem über die Webseite www.memoryloops.net von Melián aufbereitete Audiodokumente zu den Verbrechen des Nationalsozialismus zugänglich sind. Die an diesem virtuellen Gedenkort versammelten Dokumente von Tätern, Opfern und Zuschauern sind an konkrete Orte Münchens gekoppelt, die wiederum auf die Gegenwart verweisen.

Copyright: Michaela Melián & Surfacegrafik.de | Memory Loops 2010

In Deinem Werk tauchen immer wieder zentral Orte auf, sowohl in der  Musik, bei F.S.K. (»Tel Aviv«, »Odenwald« etc.) und Deinen Soloalben (Baden-Baden, Los Angeles) als auch in Deiner Kunst (Föhrenwald). Welche Rolle spielen diese Orts-Bezüge für Deine Arbeit?

Bei allen von dir genannten Projekten übernehmen die genannten Orte als Titel unterschiedliche Funktionen, immer bezogen auf den jeweiligen Kontext.

So hat F.S.K. 1995 diese Platte 4 Instrumentals – die erste Platte, die wieder in Deutschland aufgenommen wurde, nachdem wir die drei Alben davor in den USA produziert hatten – herausgebracht. Für diese Platte, unsere erste für das Label Disko B, das ein Label für elektronische Tanzmusik ist, haben wir als Band vier Tracks aufgenommen, Lieder ohne Worte, für die House bzw. elektronisch produzierte Musik Vorbild war. Hier sollte die Musik erzählen, von einem möglichen Text ist nur der Titel übrig geblieben. Titel, die im Zusammenhang mit dem Track erzählen, wie z.B. »Tel Aviv« als Ausgeh-, als Clubstadt oder »Odenwald« als Gegend der Pilzesser und Krautkommunen, um nur einige mögliche Assoziationen anzudeuten.

Bei meinen eigenen Alben ist jeder Track – hier gibt es nie eigene Texte – für einen bestimmten Ort, Kontext bzw. eine bestimmte Ausstellung entstanden. So ist der Track »Baden-Baden« Teil meiner Dia-Sound-Installation Baden-Baden, hier wird anhand von Zeichnungen ein Spaziergang durch Baden-Baden, den Louis-Ferdinand Céline in Nordenbeschreibt, nachvollzogen. Der für diese panoramatische Installation produzierte Soundtrack erweitert dabei die visuelle Ebene in die räumliche.

In der Dia-Sound-Installation Föhrenwald kommt dann zum ersten Mal das Wort zur Musik hinzu. Diese Arbeit hat eine Musterarbeitersiedlung namens Föhrenwald, die 1938 von Bauhausarchitekten geplant wurde zum Gegenstand. Natürlich erzählt auch dieser Titel schon etwas, man denke nur an Buchenwald, Birkenau.

Wie hast Du in Föhrenwald die verschiedenen historischen Aspekte dieses Ortes miteinander verzahnt und aufeinander bezogen?

Klammer für alle Aspekte war in meiner Arbeit die Architektur, die als Baukörper und Siedlungsanlage in Struktur und Erscheinung über diese Jahre der unterschiedlichen Bewohnergruppen immer die gleiche geblieben war. Ursprünglich war das Architekturensemble von den Architekten als Arbeitermustersiedlung geplant. Diese Siedlung konnte als Lager völlig autonom von der Umgebung existieren mit eigener Kanalisation, Landwirtschaft, Kläranlage und großen Gemeinschafträumen, umgeben von einem hohen Stacheldraht – genauso war auch das Konzentrationslager Buchenwald organisiert. Und dieses Setting hat sich von der Fertigstellung der Siedlung Ende der 1930er-Jahre bis Ende der 1950er-Jahre nicht verändert.

Für die Dia-Sound-Installation habe ich also 80 Zeichnungen der Häuser angefertigt, diesen Zeichnungen lagen Fotos der Häuser von heute zu Grunde, die ich bei Spaziergängen durch den Ort angefertigt hatte. Diese Zeichnungen wurden dann als reine Lichtlinien in der Installation projiziert. Im Soundtrack dagegen sind die Stimmen der einzelnen Bewohnergruppen miteinander verzahnt, die Geschichte wird nicht linear erzählt, sondern setzt alle möglichen Stimmen gegeneinander, Stimmen von innen und von außen: Berichte von Leuten, die heute dort wohnen, von jüdischen DPs, die dort gewohnt haben, und Materialien aus Archiven werden gelesen.

Copyright: Michaela Melián & Surfacegrafik.de | Memory Loops 2010

Ist dieser Hinweis auf die mediale Konstruiertheit von Orten für dich die angemessenste Herangehensweise an die historische Dimension eines Ortes wie Föhrenwald, oder auch der Lüneburger Heide, die du in Triangel zum Thema machst?

All diese von dir genannten Orte sind auf sehr unterschiedliche Weise Teil von einzelnen künstlerischen Projekten von mir geworden, und sicher interessiert mich dabei immer die mediale Konstruiertheit, aber gleichzeitig auch die divergierenden Bilder mit ihren möglichen unterschiedlichen Lesarten, Spannungsfelder, Überschreibungen, Schichtungen. So in Triangel die Lüneburger Heide mit kultivierter Heidelandschaft und Heimatmuseum, darin die Gedenkstätte Bergen-Belsen, die mit heimischen Pflanzen – und Hügelmassengräbern – die Umgebung als Parklandschaft spiegelt. Das Modell des ehemaligen Lagers sieht in der genähten Abstraktion aus Loch und Faden, Nullen und Einsen, im Luftbild wie ein heutiges Gewerbegebiet aus. Und dazwischen wieder Straßenkreuzungen und Bahnlinien, die durch diese Landschaft und zum Bahnhof von Triangel führen, gezeichnet nach dem Coverfoto des Romans Die Reise von Bernwart Vesper.

Verstehst Du Deine Aufgabe als Künstlerin auch darin, dem Erwartbaren der Erinnerungskultur und eben dem ritualisierten Erinnern andere Formen entgegenzusetzen?

Offizielle Gedenkorte haben natürlich nach wie vor einen wichtigen gesellschaftspolitischen Auftrag und in ihrer institutionellen Geschichte erzählen sie schon selbst beredt vom Stand der jeweiligen Debatte. Aber auch hier sind inzwischen Denkprozesse an der Tagesordnung, wie das Gedenken aktualisiert werden kann. Wenn wir als KünstlerInnen jetzt zu einem Wettbewerb eingeladen werden, einen Erinnerungsort zu gestalten oder ein Projekt für die offizielle Erinnerungskultur vorzuschlagen, dann entkommen wir natürlich nie dem gesellschaftspolitischen Auftrag, den dieser Wettbewerb im Sinne eines Auftraggebers erfüllen soll, zumindest müssen wir uns dazu verhalten und positionieren. In der Regel entstehen aber meine Arbeiten nicht im Zusammenhang einer offiziellen Erinnerungskultur.

Eine solche Positionierung zum gesellschaftspolitischen Auftrag ist ja etwa die Entscheidung, sich anders als die offiziellen Erinnerungskultur nicht an individuellen Einzelschicksalen zu orientieren, keine Identifikationsfiguren zu schaffen, sondern einen Aspekt wie Orte in den Mittelpunkt zu rücken. Was war für Dich der Hintergrund, den öffentlichen Raum in dieser Weise ins Zentrum deines Projekte zu rücken?

Im Falle von Memory Loops lautete die Wettbewerbsausschreibung der Landeshauptstadt  München »Opfer des Nationalsozialismus – Neue Formen des Erinnerns und Gedenkens«.  Es sollte ein Kunstprojekt für den öffentlichen Raum vorgeschlagen werden. Das besondere an diesem Wettbewerb war, dass die Stadt keinen spezifischen Ort für dieses neue Denkmal zur Verfügung gestellt hatte. Die eingeladenen Künstlerinnen und Künstler mussten sich also zu dieser Situation verhalten. Ich habe mich deshalb entschlossen, ein Projekt vorzuschlagen, das ohne einen bestimmten Erinnerungsort auskommt und stattdessen den ganzen Stadtraum als Folie für das Denkmal begreift. Mit den Memory Loops legt sich nun eine Art auditive Struktur über den Stadtplan, das ganze Stadtgebilde wird hier als Träger des Denkmals definiert und entzieht sich somit auch den offiziellen Erinnerungsritualen. Konzept für die Recherche und die Bearbeitung des Materials war, nicht zu versuchen, wie es HistorikerInnen in der Regel tun, den Opfern ihre Identität zurückzugeben. Vielmehr habe ich exemplarische Erzählungen gesucht, die auch für die sprechen, die nicht überlebt haben bzw. deren Geschichte nicht festgehalten wurde.

Welche Stimmen sind dies, die bislang nicht festgehalten wurden? Wessen Geschichte wird in Memory Loops erzählt?

Ich habe natürlich nur Material verwenden können, das in irgendeiner Form schon aufgezeichnet bzw. archiviert worden ist, abgesehen von den Interviews, die ich selbst geführt habe. Darunter sind Gespräche mit Personen, die noch nie über ihre Erlebnisse in dieser Zeit öffentlich gesprochen haben. Wichtig war mir, Berichte von Leuten zu finden, die signifikant beschreiben, wie Gewalt sich im Alltag manifestiert. Das Zeitfenster für diese Berichte ist deshalb auch nicht 1933 bis 1945, der offizielle Zeitraum der Existenz des nationalsozialistischen Staates, sondern setzt etwa mit dem Scheitern der Münchner Räterepublik ein und reicht bis heute. Die von mir interviewten Personen berichten z. B. aus einer heutigen Perspektive, von ihren Erfahrungen in der Nachkriegszeit und reflektieren den heutigen Umgang mit ihrer Geschichte.

Gleichzeitig bildet das Projekt natürlich auch – in all seiner Reduziertheit, denn selbst 24 Stunden Audiomaterial sind nur ein Bruchteil dessen, was wir in sechs Monaten an wichtigem und erzählenswerten Material zusammengetragen haben – die signifikante Lücke von fehlenden Täter- und Zuschauerberichten in den Archiven ab.

Copyright: Michaela Melián & Surfacegrafik.de | Memory Loops 2010

Wie sind in Memory Loops die verschiedenen Stimmen, Opfer, Zuschauer, zueinander ins Verhältnis gesetzt?

Die verschiedenen Stimmen sind als eigene Tracks an einem Ort nebeneinander zu finden. Z. B. findet man am Polizeipräsidium Ettstraße, wo schon viele Jahre vor 1933 Karteien über Sinti und Roma in Bayern angelegt, Kommunisten und Homosexuelle katalogisiert wurden, Stimmen von politischen und jüdischen Häftlingen, von Opfern des §175 und der Volksschädlingsverordnung, aber auch von Denunzianten und Polizisten.

Durch ein Interview, in dem mir jemand erzählt hat, wie er auf dem Heimweg von der Oper in der Pogromnacht die brennende Synagoge sah, wurde mir klar, dass in dieser Nacht eine Menge Leute auf der Straße gewesen sein müssen, denn der 9. November war ja ein nationaler Feiertag. Ich habe deshalb eine Tonspur produziert, in der eine signifikante Auswahl aus dem Veranstaltungsprogramm der Theater, Kinos und Nachtclubs am 9. November 1938 gelesen wird, es gab damals etwa 300 Kinos in München.

Und es gibt Tracks, die verschiedene Stimmen zusammenbringen, die wie kleine Minihörspiele funktionieren, um einen Vorgang besser abbilden zu können, wie z. B. der Track zur Euthanasie, der einer der schwierigsten für mich war. Hier wurden Stimmen von Angehörigen zusammengefasst, die sich nach dem Verbleib ihrer Verwandten in den Kliniken erkundigen wollen, dagegen wurden dann u.a. Anordnungen und Statements des Klinikpersonals geschnitten.

Wie verhalten sich dabei München als Ort und die Internetpräsenz als Ort zueinander? Ist dieser virtuelle Gedenkraums eine neue Form des Erinnerns jenseits monumentaler Denkmäler, im Sinne eines Archivs, das Stimmen, Bilder, Sounds zu einer Struktur zusammenfügt?

Diese Ausschreibung eines Denkmals ohne Ort kam mir natürlich entgegen, denn ein monumentales Denkmal mit den implizierten Rhetoriken zu entwerfen, liegt mir sicher nicht. Dagegen beschäftige ich mich ja seit langem mit flüchtigen Verfahren in meiner künstlerischen Praxis. Wobei es mich allerdings im ersten Moment durchaus irritiert hat, dass die Stadt München keinen signifikanten Ort für ein solches Denkmal vorgesehen hatte.

Da mein Projekt ein Audioprojekt sein würde, musste ich auch über ein Speichermedium nachdenken. Das Internet zum Zentrum des Projekts zu machen, schien mir da nur logisch zu sein, denn es ist ein Speicher, auf den alle kostenlos zugreifen können. Einerseits hat das Internet zwar eine niedrige Schwelle, niedriger als die Schwelle von Museen z. B., aber gleichzeitig kann ein Projekt im Netz auch schnell in einem schwarzen Loch verschwinden. Deshalb habe ich versucht, Memory Loops so sichtbar wie möglich zu machen und so viele Erscheinungsformen wie möglich für das Projekt zu entwickeln: Nun gibt es die Website, es gibt Schilder mit Telefonnummern im Stadtraum und es gibt mp3-Player in Museen zur kostenlosen Ausleihe. Gleichzeitig wurden die fünf langen deutschen Loops als Hörspiele im Bayerischen Rundfunk und Deutschlandradio gesendet.

Die Frage des Erinnerns an die Shoah wird im Kontext dessen, dass die letzten Zeugen bald gestorben sein werden, umso dringlicher: Wie können sich hierfür Gedenkräume finden lassen, die sich eben nicht auf das ritualisierte staatliche Gedenken reduzieren lassen, sondern die Erinnerung wach halten?

Durch die Struktur der vielen Player auf der Memory Loops-Website ergibt sich durchaus die Form eines Archivs, das allerdings auf einer persönlichen und künstlerischen Auswahl von mir beruht und das auch erst durch die Nutzer funktioniert. HistorikerInnen oder PädagogInnen würden so eine Seite sicher anders aufbauen. Denn wenn man bei Memory Loops z. B. eine Tonspur anklickt, wird einem nicht gleich gesagt, wer hier spricht. Die Files sind nur nach den Orten, wo sie auf der Stadtkarte hinterlegt wurden, benannt. Oft erfährt man erst am Ende, wer spricht. Auf Bilder habe ich ganz bewusst verzichtet, das einzige, was es zu sehen gibt, ist die von mir gezeichnete Stadtkarte, auf der man sich bewegen und in die man hineinzoomen kann. Was mir besonders wichtig scheint im Zusammenhang mit dem Gedenken ist, dass durch das Hören, das nicht so schnell geht wie das Sehen, man dem Gedenken auch Zeit schenken muss.

Copyright: Michaela Melián & Surfacegrafik.de | Memory Loops 2010