Training in Unterwerfungskompetenz
Pop und Deregulierung
Jonas Engelmann
»Sie suchen einen seriösen Werbeträger für Ihr Produkt im Bereich Pop/Unterhaltung/Lifestyle?«, fragt Rocko Schamoni im Booklet seines Albums »Showtime«. »Tätowieren Sie Ihr Logo direkt auf den Star/Werbeträger. Auf dieser Seite sehen Sie unser Startmodell ‚Rocko Schamoni’« »Body.Com« nennt Schamoni seinen ironischen Kommentar zu einer Kultur, die zunehmend einen Warencharakter angenommen hat. Doch nicht nur auf die Thesen zur Kulturindustrie von Adorno und Horkheimer nimmt Schamoni Bezug, er kommentiert mit seinem 1999 erschienenen Album auch damals aktuelle Entwicklungen der Musikindustrie: Ein Wettbewerbsdenken hat in den Neunzigern die Kultur überrannt, die von Boltanski und Chiapello aufgestellte These, dass im Neoliberalismus „der Wert jedes Einzelnen in hohem Maße variabel ist und man sich jeden Tag auf das Neue bewähren muss“ hat auch hier Einzug gehalten. Das einst geschützte Biotop »Kultur« wurde einem strukturellen Wandel unterworfen, der bis in die frühen Achtziger zurückreicht, in die Anfänge der durch die Wahl Margret Thatchers und Ronald Reagan vollzogenen politischen Wende. Die Neunziger waren geprägt von Börsengängen großer Label, von Monopolisierung und gravierenden medienpolitischen Veränderungen. Wenige Jahre vor der Krise der Musikindustrie durch den Zusammenbruch des Tonträgermarktes in den Nullerjahren hat Schamoni bereits darauf aufmerksam gemacht, dass künstlerische Produkte zunehmend in den Hintergrund gedrängt werden, wohingegen die Marke eines Künstlers, das Brand »Schamoni« in den Mittelpunkt rückt: »Steigen Sie ein bei Body.Com und sichern Sie sich eine zuverlässige Werbefläche für ein ganzes Leben! Brandings gegen Aufpreis!«
Aber nicht nur die Strukturen der Musikindustrie haben sich gewandelt, auch das gesellschaftliche Umfeld hat sich von einer staatlich subventionierten Kulturpolitik für alle hin zu einer im Zeichen der New Economy stehenden »Kreativwirtschaft« entwickelt, was auf mehreren Ebene Auswirkungen auf die kulturelle Sphäre hat. Laut einer von Owen Heatherly in seinem Buch »These Glory Days« angeführten Statistik hatten im Jahr 2010 über 60 Prozent der britischen Künstler in den Top Ten eine Privatschule besucht, zwanzig Jahre zuvor waren es nur ein Prozent der Musiker. Es hat sich also etwas Grundsätzliches geändert in Großbritannien, wo Bands aus der Arbeiterklasse und der unteren Mittelschicht eine lange Tradition haben: von den Kinks über David Bowie, Roxy Music, Kate Bush, The Smiths bis hin zu den Pet Shop Boys. Punk, um bei einem Beispiel zu bleiben, konnte seine politische Schärfe auch aus dem Grund entwickeln, weil er Menschen aus der Arbeiterklasse und der Mittelschicht vereinte. Eine zentrale Rolle für diese Vernetzung waren die staatlichen Kunsthochschulen, die sich durch einen niedrigschwelligen Zugang gerade für Jugendliche aus der Arbeiterklasse auszeichneten. Dadurch entstand ein Bewusstsein für die Probleme der Arbeiterklasse und für klassistische Ausgrenzungen. Weil jedoch die sozialen Sicherungen der Nachkriegszeit unter der Regierung Thatcher erodierten und der zunehmende Abbau staatlicher sozialer Leistungen Menschen aus den unteren Schichten die Möglichkeiten raubte, am kulturellen Leben teilzuhaben, sowohl als Konsument wie auch als Akteur, löste sich diese Verbindung im Laufe der Achtziger. Die Solidarität vieler Punkbands mit dem Bergarbeiterstreik 1984/85 und die Niederlage der Streikenden läutete nicht nur den Bedeutungsverlust der Gewerkschaften und der Arbeiterklasse in Großbritannien ein, sondern auch das Ende dieses engen Bündnisses, das Punk geschmiedet hatte.
Denn es ist von zentraler Bedeutung, wer mitspielen darf in der Kultur, und wer aufgrund seiner sozialen Herkunft ausgeschlossen bleibt. Der Abbau des staatlichen Wohlfahrtsystems, den Thatcher begonnen und Tony Blair weitergeführt hat, die Privatisierung des Gesundheitssystems, das Wegfallen des freien Zugangs zu den Art Schools und günstiger Mieten – all diese Rahmenbedingungen für die Entstehung einer unabhängigen Kultur sind in den Achtzigern verschwunden. Im Gegenzug entwickelte sich in Großbritannien wie auch in anderen westlichen Ländern eine »Kreativwirtschaft«, die Kultur unter neoliberalen Vorzeichen neu definierte. Die mit Tony Blairs Amtszeit assoziierte mediale Konstruktion des »Cool Britannia« gehört ebenso zu dieser Entwicklung wie die Mannheimer »Pop-Akademie«, die einen elitären Zugang zu Pop manifestiert, der nicht jedem zur Verfügung steht. Nicht selten waren Künstler jedoch auch Vorbilder der neoliberalen Idee der Flexibilität und der Etablierung eines Images auf dem Markt. Simon Reynolds beschreibt dies in seinem Buch »Glam« am Beispiel David Bowies: »Die Werte, für die er stand – Flexibilität, Anpassungsfähigkeit, Mobilität –, sind aus gutem Grund Glaubensgrundsätze der Kreativ- und Medienbranche: Das Ideal der ständigen Neuerfindung ist das berufliche Nebenprodukt einer Karriere mit der ständigen Wahrscheinlichkeit, sich selbst ein neues Image verpassen oder die Karriere wechseln zu müssen. Auf gewisse Weise ist Bowieismus die ästhetische Variante der Prinzipien der Finanzwelt: die Mobilität des Kapitals, während es in rasender Geschwindigkeit veräußert und reinvestiert wird, zerstörerische Innovation.«
Parallel zu dieser gesellschaftlichen Entwicklung hat sich im Zuge der Deregulierungsmaßnahmen der Achtziger und Neunziger – so wurden in Deutschland in dieser Zeit etwa die zuvor staatlichen Unternehmen der Post wie auch die Bahn in privatrechtliche Gesellschaften überführt – auch die Musikindustrie selbst grundlegend gewandelt. Kartellbehörden ließen Konzernübernahmen durchgehen, die ein Jahrzehnt zuvor noch undenkbar gewesen wären. Eine Mischung aus Börsengängen von Labels und der Abstoßung einzelner Sparten hatte eine neue Unübersichtlichkeit zur Folge, von der einige wenige Konzerne profitierten, sodass sich bis zu Beginn des neuen Jahrtausends eine Labellandschaft darbot, die von wenigen Großkonzernen dominiert war. Am Anfang dieses durch Maßnahmen der Deregulierung ausgelösten Prozesses standen zu Beginn der 1980er noch 50 große Medienkonzerne, in der Gegenwart ist diese Vielfalt auf drei Konzerne zusammengeschrumpft.
Das 1931 gegründete Label EMI etwa, das 1980 mit dem unter anderem in der Rüstungsindustrie tätigen britischen Unternehmen Thorn Electrical Industries fusioniert war, und seit den späten Siebzigern die Label United Artists, Chrysalis und Virgin Records übernommen hatte, trennte sich 1996 wieder vom Thorn-Konzern und ging an die Börse, was jedoch die Krise des Major-Labels nicht aufhalten konnte. 2012 genehmigte die EU-Kommission die Übernahme der EMI-Aktien durch Universal Music, die damit weltweit 40 Prozent der Marktanteile am Tonträgermarkt besitzen. Lukrative Anteile von EMI wie der Beatles-Backkatalog wurden dem Universal-Konzern zugeführt, andere Sparten abgestoßen oder abgewickelt. Ähnliche Entwicklungen wie EMI haben auch andere Label vollzogen, sodass in der Gegenwart die drei Major Label Universal, Sony und Warner 80 Prozent des weltweiten Musikmarktes kontrollieren.
Ein wichtiger Schritt auf diesem Weg zur Monopolisierung des Musikmarktes war eine politische Entscheidung, Bill Clintons 1996 verabschiedeter »Telecommunications Act« zur Liberalisierung des US-amerikanischen Medienmarktes. Ziel war die Aufhebung von Wettbewerbsbeschränkungen im Bereich von Fernseh- und Rundfunkstationen, Mobilfunkgesellschaften und anderen Medienunternehmen. Zuvor hatten in den USA Medienkonzerne landesweit maximal 28 Radiostationen besitzen dürfen, nach 1996 führte die Aufhebung dieser Beschränkung zu einer Monopolbildung, weswegen sich der Begriff »Clear Channeling« durchgesetzt hat: Der Medienkonzern Clear Channel Communications (heute iHeartMedia) erwarb nach der Verabschiedung des »Telecommunications Act« über 850 Radiostationen mit wöchentlich 110 Millionen Hörern. Die Marktmacht dieses Senders ist unübersehbar, die Folge war eine Homogenisierung des Programms. »The Death of American Radio« lautete entsprechend ein Songtitel der New Yorker Post-Bunk-Band Radio 4 von ihrem Konzeptalbum zur amerikanischen Gegenwart »The Stealing of a Nation« (2004): »Another sound it dies tonight/This signal is clear and bright/Deregulation, it don’t sit right.« Der von Radio 4 besungene »Tod des amerikanischen Radios« war vor allem ein Tod der bisherigen Strukturen des Musikbusiness, das Musikern die Möglichkeit geboten hatte, sich über unabhängige regionale Radiostationen einen Namen zu erspielen, während durch die neuen Besitzverhältnisse und die Verflechtungen zwischen Medien- und Musikkonzernen die Vielfalt des Radios verloren gegangen ist, und dies nicht nur in den USA. »HR3 muss sein Programm mehr fokussieren auf die Mitte und den Mainstream und rund um die Uhr durchhörbar sein«, begründete der Hessische Rundfunk 2008 die Absetzung von Klaus Walters Sendung »Der Ball ist rund«. Für eine solche Durchhörbarkeit des Programms sorgen Produzenten wie der Mittdreißiger New Yorker Jack Antonoff, Produzent und Songwriter zahlreicher Nummer-Eins-Hits von Lorde, Pink oder Taylor Swift, die vor allem von einem Retro-Blick in die Musikvergangenheit geprägt sind. »In vielerlei Hinsicht steht die Musikkultur paradigmatisch für das Schicksal der Kultur im postfordistischen Kapitalismus. Auf der Ebene der Form dominieren Pastiche und Wiederholung«, schreibt Mark Fisher in seinem Buch »Kapitalistischer Realismus ohne Alternative?«, einer Analyse der Auswirkungen der Thatcherjahre und des Neoliberalismus auf die Gesellschaft wie auch die Kultur. Während die Form in Wiederholung erstarrt ist, zeigt sich die darunter liegende Struktur als wandelbar: Das Geld wird von den Musikkonzernen nach Zusammenbruch des Tonträgermarktes nicht mehr durch Musik, sondern, wie Berthold Seliger in »Das Geschäft mit der Musik« schreibt, durch »attraktive Wertschöpfungsketten«, von Touren und Merchandise bis bin zu Parkgebühren und durch Onlinetickets erhobene Kundendaten. Die Dystopie Rocko Schamonis der Haut des Künstlers als Werbeträger klingt heute weniger absurd als noch vor 20 Jahren.
Doch wie gehen Musikerinnen und Musiker mit dieser neuen Realität um, wenn sie nicht wie Marcin Oz von The Whitest Boy Alive die Musikkarriere an den Nagel hängen wollen, um Winzer auf Sizilien zu werden? An den Strukturen etwas zu ändern ist nur als Utopie zu denken und sich in einer Nische jenseits kapitalistischer Verwertungszusammenhänge einzurichten ist nicht für jeden eine Option. Bleibt als eine Strategie das Benennen der neoliberalen Ideologie, des alles umfassenden kapitalistischen Realismus, die es die Goldenen Zitronen in zahlreichen Songs vorführen, beispielsweise im »Lied der Stimmungshochhalter« von 2006: »Die, denen sie das Lächeln auf harten Wartebänken/In Serviceagenturen, in Gesichtszüge renken/
Täglich bücklings im Flur von Raststättentoiletten/Lässt sich Demut üben und eine Resthoffnung retten auf/Aufnahme in Laufburschenschaft/(Ich weiß, ich muss flexibel sein)/Nach Überprüfung der Unterwerfungskompetenz/(Ich weiß, es kommt nichts von allein)«. Stärker fokussiert auf die prekäre Lebensrealität als Musiker hat Christiane Rösinger 2006 im Song »Wer wird Millionär?« mit ihrer Band Britta formuliert hat: »Besser wohnen und auch mal reisen, Champagner, Tanz und Kokain/Das wär ein schönes Leben, das kriegen nur die anderen hin/Für uns heißt es weiter rechnen, krebsen, wurschteln, durchschlagen/Ich zähle täglich meine Sorgen/Und dabei denk’ ich noch nicht einmal an Morgen/Ich hab gar keine Angst/Nur manchmal frag’ ich mich:/Ist das noch Bohème oder schon die Unterschicht?« Der schmale Grat zwischen Selbstausbeutung und freiem Leben ist selten so offen benannt worden. »Die Prüfung findet heute nicht statt/Die Karriere macht mal Pause«, fordern Tocotronic dagegen 2007 auf ihrem Album »Kapitulation«: »Sag alles ab/Geh einfach weg/Halt die Maschine an und/Frag nicht nach dem Zweck«. Das »I would prefer not to« von Herman Melvilles Figur Bartleby, der Ende des 19. Jahrhunderts mit der Beharrlichkeit seiner Verweigerung schließlich seinen Arbeitgeber aus dem Büro treiben konnte, ist in der postfordistischen Realität der Gegenwart nicht mehr vorstellbar. Und so kapitulieren auch Tocotronic statt der vollständigen Absage an die eigene Karriere vor den Strukturen der Musikindustrie und veröffentlichen in regelmäßigen Abständen Alben, gehen auf Tour und etablieren die Marke »Tocotronic« als kritische Stimme der Musikindustrie in eben derselben.