Publikation Die Linke und die Kunst. Jens Kastner im Gespräch

Der Wiener Soziologe und Kunsthistoriker Jens Kastner im Gespräch über das Verhältnis linker Theorie zur Kunst

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Die Linke und die Kunst – Jens Kastner im Gespräch.

In seinem 1956 erschienenen Buch »Avantgarde Film« hat Peter Weiss geschrieben: »Diese avantgardistischen Arbeiten aus dem Film, der Malerei, der Literatur, haben die Katastrophe überlebt. Sie bilden keinen Abschluss, sondern stehen immer noch an einem Anfang. Sie lassen sich weiterentwickeln, fortsetzen. Je konformistischer die äußere Ordnung wird, desto lebendiger wird diese respektlose, aufwieglerische Kunst. Wir brauchen wieder gewaltsame künstlerische Handlungen – in unserem satten, zufriedenen Schlafzustand.« Auf der Suche nach einer Filmsprache, die an die Experimente der historischen Avantgarden anknüpfen und eine beunruhigende Wirkung auf das Publikum haben sollte, mit dem Ziel einer »Veränderung der Gesellschaftsordnung«, engagierte sich Weiss ab Beginn der fünfziger Jahre in der Stockholmer »Arbeitsgruppe für Film« und setzte sich zugleich mit der Geschichte des experimentellen Films auseinander, eine Arbeit, die in sein Buchprojekt »Avantgarde Film« einfloss. Weiss versteht sich als linekr Künstler, der an die Kraft der Kunst für die Veränderung von Gesellschaft glaubte. Allein, die Linke Theoriebildung war in dieser Hinsicht nicht immer so optimistisch.

Der Wiener Soziologe und Kunsthistoriker Jens Kastner hat mit »Die Linke und die Kunst« eine erste Überblicksdarstelleung zur Rolle von Kunst in Linker Theorie vorgelegt, die eine Bogen von Marx und Engels über den Situationismus, den Feminismus bis hin zur postkolonialen Theorie schlägt. Für unsere Webseite haben wir Kastner zum Gespräch über den Blick der Linken auf die Kunst gebeten, das in drei Teilen veröffentlicht wird. Das Buch ist im Unrast Verlag erschienen.

Das Interview führte unser Mitarbeiter Jonas Engelmann.

Der Soziologe und Kunsthistoriker Jens Kastner (Foto: privat)
Die Linke und die Kunst. Ein Überblick

Was sind die wichtigsten Aspekte von Kunst in den Narrativen der Linken, die vermutlich von Kunst als Instrument und Träger von Freiheit und Emanzipation mit zur Kunst als Ausdruck bürgerlicher Dekadenz reichen?

Mal wird die Kunst als Trägerin der Wahrheit konzipiert, mal als einzig verbleibendes Mittel der Negation, mal als spezielles Kommunikationsmittel, als Fortschrittsmotor oder als performative Praxis, die neue Wirklichkeit erzeugt. Es gibt noch mehr solcher Bestimmungen. Sie alle liegen dann mehr oder weniger quer zu den jeweiligen Einschätzungen, ob Kunst eher der Reproduktion sozialer Verhältnisse dient oder doch ein geeignetes Mittel bzw. ein geeigneter Weg zu deren radikaler Veränderung ist. Manchmal wird durchaus auch beides in Betracht gezogen.

Was waren die erstaunlichsten/überraschendsten Erkenntnisse, die dir in der Recherche begegnet sind?

Ehrlich gesagt hat mich die Vielseitigkeit der marxistisch-leninistischen Kunstauffassungen am meisten überrascht. Hier war ich vielleicht auch einem Vorurteil aufgesessen, das sich durch meine von der Kritischen Theorie und Bourdieu geprägten theoretischen Sozialisation ergeben hat. Sicherlich bleibt der Versuch, Kunst in leninistischer Tradition als Widerspiegelung sozialer Realitäten zu denken, in gewisser Weise beschränkt. Trotzdem lässt sich hier viel lernen, in den »Vorlesungen zur marxistisch-leninistischen Ästhetik« von Mossej Kagan zum Beispiel, werden zentrale Fragen heutiger Kunsttheorie schon systematisch behandelt. Auf dieses Buch bin ich skurriler Weise über den peruanisch-mexikanischen Kunsttheoretiker Juan Acha gestoßen, der Deutsch konnte und es oft zitiert hat. Zu Mossej Kagan gibt es nicht einmal einen Wikipedia-Eintrag, dabei muss das Buch, ein dicker Wälzer aus dem Dietz-Verlag, in der DDR ein kleiner Hit gewesen sein, es gibt mindestens drei Auflagen.

Aber es gab auch noch andere Überraschungen. Allein die Tatsache, dass der bildenden Kunst in fast allen theoretischen Strömungen der Linken – und ich habe da ja ein recht weites, undogmatisches Verständnis von »der Linken« – ein so großer Stellenwert in sozialtheoretischer Hinsicht eingeräumt wird, das fand ich erstaunlich.

Die Kunst bei Marx und Engels

Ich fand den Brief von Engels recht erstaunlich, den Du ausgegraben hast, in dem er davon schreibt, dass Kunst dazu beitragen kann, die soziale Wirklichkeit zu hinterfragen und Illusionen zu zerreißen. Welche Form muss die Kunst beim Kunsttheoretiker Engels dabei haben?

Bei Engels muss Kunst realistisch sein, das lässt sich wohl so platt sagen. Engels war begeistert von dem seinerzeit bekannten Maler Carl Wilhelm Hübner, der aus seiner Sicht die sozialen Widersprüche besser auf den Punkt brachte als so manches Flugblatt. In Hübners Bildern von den schlesischen Weberinnen und Webern steht der reiche Kapitalist den armen Arbeiter*innen gegenüber, er auf einem edlen Teppich, sie auf kargem Steinfußboden, er arrogant, sie flehend usw. Einerseits versteht man schon, dass das anrühren und mobilisieren kann, andererseits wird die Handlungsabfolge Rührung, Mobilisierung, Aktion aber schon viel zu geradlinig und viel zu selbstverständlich gedacht. Und als Leitlinie formuliert, läuft Engels‘ Begeisterung schon auf einen sehr verarmten Anspruch gegenüber dem hinaus, was künstlerische Form und Gestaltung ausmachen könnte.

Und wie steht Marx zur Kunst? In seinen Werken spielt sie ja nur eine untergeordnete Rolle

Aus meiner Sicht – und ich weiß, dass viele das anders sehen – ist Marx der Begründer der Kunstsoziologie. Das heißt, er hat sich in den wenigen, aber oft aufgegriffenen Anmerkungen zur Kunst klar gegen die Annahme anthropologischer Konstanten gewandt. Es gibt keinen naturgegebenen Zugang zur Kunst, das »schönheitsgenussfähige Auge«, schreibt Marx, muss erst geschaffen werden. Wie wird es geschaffen? Durch die Kunst selbst – die Kunstproduktion schaffe nicht nur einen Gegenstand für ein Subjekt, sondern auch ein Subjekt für den Gegenstand – und durch »Bildungsverhältnisse«. Das bedeutet auch, dass die Leute, die sich mit Kunst beschäftigen, kein unspezifisches »Wir« sind, dass es also kein allgemeines Publikum gibt. Mit Marx müsste man die allgemeine Rede davon, was die Kunst mit »uns« macht, in »uns« auslöst, wie »wir« in sie einbezogen werden, usw., die sich in kunstphilosophischen Texten bis heute findet, als ahistorisch und naturalisierend zurückweisen. Es sind immer bestimmte Leute und andere nicht, die etwas von Kunst wollen oder für die Kunst etwas bedeutet und zwar aus bestimmten, historisch zu beschreibenden Gründen.

Kunst und anarchistische Theorie

Von Bakunin gibt es das berühmte Zitat: »Die Lust der Zerstörung ist zugleich eine schaffende Lust«. In der Theorie des Anarchismus ist es nicht der Realismus sondern eher dessen Negation und das Experiment, die hervorgehoben werden. Wie kann z.B. in den Augen von Proudhon oder Bakunin denn dann konkret im formalen Experiment eine emanzipatorische Praxis liegen?

Es gab ja immer beide Momente im Anarchismus, die Feier des Experiments, der, wenn man so will, Zerstörung der symbolischen Ordnung auf der einen Seite und das Anliegen der Vermittlung und der Didaktik auf der anderen Seite. Manchmal werden diese Momente tatsächlich auch mit gegensätzlichen politisch-strategischen Positionen verknüpft, also mit avantgardistisch-bohemistischen einerseits und proletarisch-volkstümlichen andererseits. Manches Mal finden sich diese widerstreitenden Momente aber auch in ein und demselben Text!

Proudhon war eher ein Vertreter der popularen Kunst, der didaktischen Seite, die realistische Malerei seines Freundes Gustave Courbet war sein Ideal. Mit dem ästhetischen Experiment hingegen, mit den Praktiken der späteren Avantgarden also, erhofften sich anarchistische Theoretiker*innen einen Bewusstseinswandel: Durch den Schock, die Irritation, das Durchbrechen des Gewohnten sollten neue Möglichkeiten des Lebens nicht nur erkennbar, sondern auch erlebbar werden. Dass diese Erfahrung, die sowohl Erkenntnis als auch Affekt anspricht, dann auch antistaatliche, ahierarchische, antikapitalistische Lebensweisen hervorbringt, das war die Hoffnung.

Trotz dieses Ansatzes des Glaubens an die emanzipatorische Kraft radikaler Kunst ist Dein Fazit für den Anarchismus, dass er der Autonomie der Kunst gegenüber skeptisch war. Wie erklärst Du dir diesen Widerspruch?

Wie vielen anderen linken Strömungen auch, war den Anarchistinnen und Anarchisten daran gelegen, eine Kunstvorstellung und eine Kunstpraxis zu entwickeln, die nicht vom Leben der meisten Menschen abgetrennt existiert, die nicht zu ihrem Schaden, wie Bakunin schrieb, betrieben wird. Daher die Skepsis gegenüber einer Kunst, die sich nur und vor allem auf vorherige Kunst bezieht und die umso voraussetzungsreicher und spezieller wird, je radikaler die Experimente und die Brüche mit dem Vorherigen sind. Der Widerspruch liegt sozusagen nicht bei den Anarchist*innen, sondern bei der Kunst in der bürgerlichen Gesellschaft.

Kunst im Marxismus-Leninismus

Im Kontrast dazu bringst Du im Kapitel zur Kunst im Marxismus-Leninismus etwa Lukács ins Spiel, der das Experiment als dekadenten Formalismus abkanzelt. In seiner Debatte mit Brecht über das Selbstverständnis von Kunst kann man viel über die zentralen Positionen der damaligen Zeit ablesen. Worin liegen diese gegensätzlichen Positionen und was kann man davon für unsere Gegenwart lernen?

Grob gesagt, war Georg Lukács der Verfechter eines realistischen Kunstverständnisses, das an der französischen Literatur des 19. Jahrhunderts orientiert war, also etwa an Balzac. Brecht hingegen, der ja realistischen Kunstformen ebenfalls nicht abgeneigt war, wollte auch die Innovationen der Avantgardebewegungen, damals insbesondere des Expressionismus, als politisch relevant anerkannt wissen. Bilden künstlerische Arbeiten die Widersprüche der sozialen Welt nur unterschiedlich ab, oder erzeugen sie nicht selbst auch neue, widersprüchliche soziale Praktiken? Gibt es eine der Zeit, also der gesellschaftlichen Situation besonders angemessene Kunstform? Kann man sich Kunstpraktiken der Vergangenheit bedienen, um gesellschaftliche Veränderungen in der Gegenwart hervorzurufen? Das sind beispielsweise Fragen, die damals aufgeworfen wurden und die unter anderen Vorzeichen ja auch heute noch diskutiert werden.

Auch Trotzki hat sich mit Kunst beschäftigt und dabei auch die Frage nach dem Verhältnis von Kunst und Leben gestellt, bzw. danach, wie diese Differenz aufgehoben werden könne, oder wann sie aufgehoben ist? Während zeitgleich die Dadaisten die Grenzen zwischen Kunst und Leben einreißen wollten, kommt er zu anderen Schlüssen: Welche waren das? Und hat er sich mal zu Dada geäußert? Zu Lenin heißt es ja, er sei zumindest genervt vom Lärm des Cabaret Voltaire gewesen, als er dort 1916 in Zürich Nachbar in der Spiegelgasse war …

Während die Kunst bei Trotzki in »Permanente Revolution« und anderen zentralen Schriften gar nicht vorkommt, hat er noch inmitten der postrevolutionären Zeit Anfang der 1920er Jahre offenbar die Muße gefunden, mit »Literatur und Revolution« (1923) eine kunsttheoretische Arbeit zu verfassen. Es schien ihm also wichtig und bedeutsam zu sein. Trotzki beschreibt auch Aspekte einer arbeitsteiligen und, wenn man so will, funktional-differenzierten Gesellschaft. Er sieht die »Trennwand« zwischen Kunst und Industrie aber erst mit der Revolution der Produktionsverhältnisse einstürzen, nicht durch die künstlerischen Aktionen selbst. Dieser Vorrang des Ökonomischen ist ganz eindeutig. Auch steckt die Arbeiterklasse bei Trotzki die Künstler*innen zu Neuerungen an, nicht umgekehrt. In beiderlei Hinsicht ist das eine Gegenposition zu jener Selbstbeschreibung der künstlerischen Avantgarden, die auch den politisch motivierten Zweig von Dada geprägt hat.

Trotzki schreibt aber auch über künstlerische Avantgarden und erkennt ihre Errungenschaften an, hier steht aber insbesondere der russische Futurismus im Fokus. Trotzki war hier wesentlich offener als Lukács, d.h. er konnte auch die bürgerlichen Kunstströmungen trotz ihrer Bürgerlichkeit als Teil des historischen Prozesses wertschätzen. In diesem Kontext hat er sich übrigens auch beim Genossen Antonio Gramsci darüber erkundigt, was es mit dem italienischen Futurismus auf sich hat, dessen Protagonisten ja bekanntlich, anders als ihre russischen Kolleg*innen, zu Faschisten wurden.

Und in einem weiteren Punkt ist Trotzki interessant: Ende der 1930er Jahre, im angesichts des Stalinismus und der sich ausweitenden Faschismen, formuliert er in Mexiko gemeinsam mit André Breton und Diego Rivera ein Manifest mit dem paradoxen Titel »Für eine unabhängige, revolutionäre Kunst«. Das ist so paradox wie paradigmatisch, denn es zieht sich als Position dann bis in heutige linke Auseinandersetzungen durch: Unabhängigkeit und revolutionäre Effekte zugleich von der Kunst zu verlangen, ist eine zwar nachvollziehbare, aber letztlich nicht einlösbare Forderung. Entweder die Kunstpraxis ist einer Sache verschrieben oder sie ist es nicht. Beides geht nicht oder nur zu dem Preis einer exklusiven definitorischen Setzung, dass man also sagt, nur revolutionäre Kunst ist wirklich unabhängig bzw. nur wirklich unabhängige Kunst ist revolutionär. Damit umgeht man das Problem aber eher, als es zu lösen.

Buchcover »Die Linke und die Kunst« (Unrast Verlag)
Kunst in der Kritischen Theorie

Innerhalb der Kritischen Theorie spielen die Kunst und die Kultur eine wichtige Rolle, es stehen nicht mehr die ökonomischen Produktionsverhältnisse im Mittelpunkt, sondern kulturelle Phänomene. Wie ist es für die marxistisch geschulten Theoretiker zu dieser Verschiebung gekommen?

Es gibt ein großes Missverständnis, was diese Verschiebung betrifft. Produziert wurde es von Perry Anderson, der in »Über den westlichen Marxismus« sein Unverständnis darüber äußert, dass marxistische Theoretiker (hier ist die männliche Form angebracht, Frauen kommen bei ihm nicht vor) sich plötzlich mehr für Kultur als für politische Ökonomie interessieren. Gemeint ist damit vor allem die Kritische Theorie, aber auch der französische Marxismus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Anderson unterstellt, die Theorie beschäftige sich fortan nur noch mit Lappalien wie Romanen, Kunstwerken und Filmen, anstatt sich mit den wirklich wichtigen Dingen zu beschäftigen, eben den ökonomischen Strukturen. Das Missverständnis entsteht durch eine falsche Interpretation des Kulturbegriffes: Mit der Hinwendung zu Kultur, die ohne Zweifel stattfindet, wendet man sich aber nicht vom großen Ganzen ab. Im Gegenteil, mit Kultur adressiert schon Max Horkheimer eine ganze Lebensweise, in der Kunst und Literatur nur spezifische Praktiken von vielen ausmachen. Die Verschiebung von Ökonomie zur Kultur hatte ihren Grund darin, dass rein ökonomische Erklärungen als unzulänglich angesehen wurden, um zu verstehen, wieso die Revolutionen nach dem Ersten Weltkrieg außer in Russland gescheitert waren, warum sich die Arbeiterklassen in den Kapitalismus integrieren ließen. Die Verschiebung fand also nicht von der Frage »wie funktioniert die politische Ökonomie?« zur Frage »wie funktioniert der moderne Film?« statt – wie Anderson unterstellt hatte –, sondern von der sozioökonomischen Produktionsweise hin zu den Gebrauchsweisen der Produkte. Damit sollte die Frage beantwortet werden können, warum die Leute vielleicht lieber ins Kino gingen als für ihre Rechte zu demonstrieren und den Kapitalismus abzuschaffen.

Die Rolle der Kunst in der Gesellschaft wird von den Vertretern der Kritischen Theorie sehr unterschiedlich bewertet, für Marcuse ist sie die »Architektur einer freien Gesellschaft«, ist also etwas über die soziale Realität hinausweisendes, produktives, für Walter Benjamin oder Adorno dagegen ist die Aufgabe der Kunst, die bestehende Realität zu verneinen. Kannst du die unterschiedlichen Positionen kurz umreißen?

Die Negation des Bestehenden ist vielleicht die große Gemeinsamkeit, die der Kunst in den verschiedenen Herangehensweisen der Kritischen Theorie zugeschrieben wird. Zunächst ist dabei einmal festzuhalten, dass diese Positionen als Abkehr vom (in der Linken) dominanten Widerspiegelungstheorem sowohl in deskriptiver als auch normativer Hinsicht konzipiert war: Also Kunst wurde nicht nur als etwas beschrieben, was mehr und anderes als soziale Realitäten widerspiegeln konnte, sondern sie sollte es auch. Bei Marcuse ist die Negation, die die Kunst betreibt, dann eher eine optimistische Angelegenheit, sie verneint das Gegenwärtige sozusagen als Hoffnung auf etwas ganz anderes. Bei Adorno und Benjamin gibt es dieses Hoffnungsmoment zwar auch, aber sie tendieren eher zu pessimistischen Visionen in dem Sinne, dass die Kunst als letztes und stets bedrohtes Reservat der Kritik angesehen wird. Das ist jetzt alles sehr verkürzt, aber im Wesentlichen, denke ich, sind die Positionen damit gekennzeichnet.

Ich habe mich im Buch immer bemüht, möglichst breit zu rezipieren, also nicht nur jeweils ein Buch oder einen zentralen Aufsatz heranzuziehen, sondern ein Panorama des Schaffens darzustellen. Hinzu kam der Versuch, in Ansätzen auch Debatten abzubilden und die jeweiligen theoretischen Formationen – also in etwa Labels wie »Kritische Theorie«, nach denen ich die Kapitel geordnet habe – in ihrer Relevanz bis in die Gegenwart ernst zu nehmen. Das Kapitel zur Kritischen Theorie endet also nicht mit Adornos Ästhetischer Theorie.

Alle Vertreter der Kritischen Theorie sind vom Nationalsozialismus aus Deutschland vertrieben worden, die Shoah fand während ihres Wirkens statt und hat auch ihre Schriften zutiefst geprägt. Hat sich aufgrund dieser Erfahrungen auch der Blick auf die Kunst geändert ? Wie kann politische Kunst nach Ausschwitz aussehen, nach der Ästhetisierung der Politik durch den Faschismus, wie Benjamin es ausgedrückt hat?

Das wäre sicherlich eine Untersuchung für sich wert. Es gibt Adornos viel zitierten und später relativierten Satz, dass nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben barbarisch sei, aber im Großen und Ganzen scheint mir die Shoah in Bezug auf das Kunstverständnis innerhalb der Kritischen Theorie nicht der Bruch zu sein, den man vielleicht erwarten würde. Walter Benjamin konnte seinen Aufruf, die Ästhetik zu politisieren, den er am Ende seines Aufsatzes zur technischen Reproduzierbarkeit des Kunstwerkes formuliert, ja nicht weiter ausführen. Es ist dann viel darüber spekuliert worden, wie eine Politisierung der Ästhetik aussehen könnte.

Einige der Vertreter der Kritischen Theorie haben selbst Kunst hinterlassen, Adorno Kompositionen, Sohn-Rethel literarische Texte, Walter Benjamin Radioessays. Wie ist denn das Verhältnis des theoretischen Anspruchs an die Kunst und ihrer konkreten Umsetzung?

Ich habe mich ja vor allem mit der Theorieproduktion beschäftigt und die Frage zu beantworten versucht, welche Rolle der Kunst in den gesellschaftstheoretischen Entwürfen zukommt. Die Kunstproduktion der Theoretiker*innen, auch jener, die selbst Künstler*innen waren, habe ich außen vor gelassen. Das hätte einfach den Rahmen gesprengt.

Guy Debords »Die Gesellschaft des Spektakels« und andere Bücher der Situationistischen Internationale.
Kunst in der situationistischen Theorie

Der Situationismus ist die erste theoretische Schule nach 1945, die du untersuchst. Dort wird Kunst als eine affirmative Praxis verstanden, als Teil der „Gesellschaft des Spektakels“. Welche Rolle spielt die Kunst für die Situationisten in diesem Spektakel?

Die Kunst spielt eine nicht unwichtige Rolle für die Entwicklung des Spektakels, weil es in ihr so etwas wie ein Monopol auf Bildlichkeit und symbolische Bedeutung gab. Wenn also Gesellschaft (als Spektakel) bloß noch als falsches, ideologisches Abbild ihrer selbst wahrgenommen werden kann, dann kann die Spezialsphäre der Produktion und Rezeption von Bildern daran nicht unbeteiligt sein. Diese Position führte auch zu widersprüchlichen oder widerstrebenden Haltungen innerhalb der Situationistischen Internationale (SI). Während anfangs künstlerische Strategien, also auch Bilder zu malen, noch als probates Mittel angesehen wurden, dem Spektakel etwas entgegenzusetzen, wurden die Künstler*innen schon Anfang der 1960er Jahre aus der SI ausgeschlossen. Es lässt sich aber vielleicht hervorheben, dass vor allem Guy Debord, wenn er auch für den Ausschluss der Künstler*innen war, stattdessen kein reines Theorieprojekt vor Augen hatte. Es ging ihm schon darum, die theoretische Zuspitzung mit außertheoretischen Kämpfen, also mit klassenkämpferischen, rätekommunistischen Strömungen der Arbeiter*innenbewegungen zu verknüpfen.

Bei Raoul Vaneigen ist es vor allem das System Kunst, das kritisiert wird, wo sieht er dagegen in der künstlerischen Praxis noch ein Potential jenseits des Spektakels?

Raoul Vaneigem und Guy Debord sind in vielerlei Hinsicht die beiden Extrempole im situationistischen Diskurs. Beide benutzen den Spektakel-Begriff, aber Vaneigem setzt der Spektakelkunst viel stärker als Debord die Möglichkeit kreativen, lustvollen Schaffens entgegen. Die Gefahr der Vereinnahmung und der Kooptation wird schon gesehen und ständig problematisiert, aber die Hoffnung auf die Möglichkeit spontanen, lustbetonten, selbstbestimmten Handelns ist sehr groß. Vaneigem versucht das vielleicht auch in seinem eigenen Schreiben schon vorwegzunehmen, das viel poetischer ist als der eher wissenschaftliche Stil Debords. Beide treffen sich allerdings wieder in der Forderung nach einer generalisierten Selbstverwaltung. Aber die Frage bleibt selbstverständlich offen, ob es ein Außerhalb des Spektakels geben kann und falls ja, wie es initiiert und geschützt werden kann bzw. könnte.

Welche Strategien kann Kunst entwickeln, um die Durchdringung aller Lebenssphären durch den Kapitalismus, zu überwinden? Kunst bleibt ja eine Ware, zumindest im bestehenden Kunstsystem, das auf das Werk fokussiert ist?

Das ist wohl eine der Schlüsselfragen, die hier vielfach und in unterschiedlichen Begrifflichkeiten immer wieder gestellt wird. Leicht zu beantworten ist sie selbstverständlich nicht. Das Kunstwerk oder die künstlerische Arbeit ist eine Ware, aber keine Ware wie jede andere. Es produziert immer auch einen symbolischen Wert, der dem Tauschwert letztlich vorausgeht, weil dieser ohne den symbolischen Wert gar nicht entstehen könnte. Ohne dass ein Konglomerat von Kunstexpert*innen – der akademische Diskurs, die Museumsleute, die Sammler*innen, die Kunstkritik, usw. – einem Gegenstand die Weihe verleiht, gute Kunst zu sein, lässt er sich nicht verkaufen. Symbolisch ist der Wert der künstlerischen Arbeit nicht in dem Sinne, dass er keine wirklichen Auswirkungen hat, sondern im Gegenteil, dass er sich auf Prozesse der Sinn- und Bedeutungsgebung bezieht. Was ist gut, was ist richtig, was ist wertvoll – Antworten auf diese Fragen sind ja stets mehr oder weniger langlebige Effekte sozialer Aushandlungsprozesse oder Kämpfe. Darauf zielen nun verschiedene künstlerische Strategien: Die allgemeinen und hegemonialen Prozesse der Bedeutungsgebung zu irritieren, zu unterlaufen, ihnen etwas entgegenzusetzen. Das kann die heteronormative Matrix oder das Verschweigen der kolonialen Gräuel oder das Dogma sein, dass es zum Kapitalismus keine Alternative gäbe. Wie erfolgreich eine solche Strategie sein kann, hängt von verschiedenen Faktoren ab und kann wohl nur am Einzelfall nachgezeichnet werden. Ich denke, die Zeit ist vorbei, in der man allgemein sagen konnte, Überaffirmation ist die Strategie der Stunde oder Verweigerung oder Formalästhetik oder was auch immer.

Kunst in der poststrukturalistischen Theorie

Pierre Macherey, dessen Schriften für dich den Übergang von Lenin zum Poststrukturalismus markieren, hat Jules Vernes Science-Fiction-Texte auf das darin Ausgesparte und Verschwiegene analysiert, eine Herangehensweise, die Edward Said später als „Kontrapunktische Lektüre“ weiter ausgeführt hat. Was kann mit dieser Verschiebung des Fokus sichtbar gemacht werden?

Pierre Macherey schien mir eine interessante Figur, weil er einerseits ein Schüler Louis Althussers ist und als solcher vielleicht den letzten, anspruchsvollen Versuch unternimmt, das leninistische Widerspiegelungstheorem zu erneuern. Andererseits spielt seine Position in dem bekanntem Aufsatz der postkolonialistischen Theoretikerin Gayatri Chakravorty Spivak »Can the Subaltern Speak?« eine wichtige Rolle und zwar genau durch die Betonung der theoretischen Bedeutung des Nicht-Sichtbaren, des Nicht-Gesagten und des Ausgeklammerten. Ihn interessiert die Frage, was der Spiegel der Wirklichkeit, der Kunst u.a. auch sein kann, gerade nicht zeigt. Darauf hinzuweisen, dass das kein Mangel sein muss, etwas nicht abbilden zu können oder wegzulassen, sondern ein Potenzial, das vor Verdoppelung und Reproduktion bewahren kann, ist vielleicht die von Macherey ausgehende Errungenschaft.

Du machst in diesem Zusammenhang den Begriff der »Brechung« stark, der bereits zur Auseinandersetzung des Poststrukturalismus mit der Kunst hinführt. Wie wird dort das Verhältnis von künstlerischer Arbeit und herrschender Ideologie analysiert?

Das ist natürlich eine kleine Nebenthese meinerseits, dass sich mit der Brechung, also dem auslassenden oder verzerrten Spiegelbild, das Macherey schon bei Lenin ausmachen will, schon der Poststrukturalismus ankündigt. Die poststrukalistischen Theoretiker*innen lassen in der Regel ja den Ideologiebegriff fallen und ersetzen ihn durch verschiedene andere Konzepte wie etwa das Dispositiv bei Michel Foucault und die Territorialisierung bei Gilles Deleuze und Félix Guattari. In den meisten Fällen führt das zu einer erstaunlichen Aufwertung der künstlerischen Arbeit, die nur noch selten als Reproduzentin des soziopolitischen Status quo angesehen wird und viel häufiger als potenzielle Produzentin anderer Wirklichkeiten, eben des Brechens mit der aktuellen Wirklichkeit. Das Anders-Werden spielt in diesen Ansätzen eine große Rolle und da scheint die Kunst meist wie selbstverständlich ihren positiven Beitrag zu leisten. Die Beharrungskräfte, also das, was andere als herrschende Ideologie bezeichnen würden, werden aus letztlich programmatischen Gründen weniger in den Vordergrund gerückt.

Du hast das »Anders-Werden« angesprochen, das vor allem bei Deleuze und Guattari im Mittelpunkt steht. Dieses »Werden« ist ja vielfach ausgeformt. In ihrem Buch über Kafka sprechen sie vom »Tier-Werden« bei Kafka, bei dem es um die Suche nach einem Ausweg geht, um eine »Fluchtlinie, auch ohne sich von der Stelle zu rühren, selbst wenn man im Käfig bleibt«. Ist das die Rolle der Kunst für Deleuze und Guattari – als Repräsentanten des Poststrukturalismus: Das Aufzeigen von Fluchtlinien?

Es ist sogar häufig mehr als die Möglichkeit, Fluchtlinien aufzuzeigen, die der Kunst zugetraut wird: Nicht nur darauf hinzuweisen, dass es etwas anderes gibt oder geben könnte und sollte, sondern selbst dieses Andere zu sein, also die Flucht oder das Entfliehen nicht nur aufzuzeigen, sondern zu verkörpern, zu praktizieren.

Das Kafka-Buch von Deleuze und Guattari hat mir vor allem deshalb gut gefallen, weil es sich durch die Entwicklung von Kriterien von vielen, nicht nur poststrukturalistischen Texten zur Kunst abhebt. Also, statt das allgemeine »Kunst ist …« oder »die Kunst soll …«, werden hier konkret anhand eines Werkes Kriterien für gute oder richtige oder politisch zu fördernde Kunst entwickelt: weniger das Subjekt als die Verkettung von Aussagen in den Blick zu nehmen, mit der hegemonialen Sprache zu brechen und das Individuelle ans Gesellschaftliche zu binden. Was Kafka laut Delueze/ Guattari tut und gut macht, ließe sich dann eben als Maßstab an andere Kunst anlegen. Später (in »Was ist Philosophie?«) schreiben aber auch Deleuze und Guattari wieder – wie so viele andere – ganz allgemein von »der Kunst«, die »ist« und »soll« oder beides zugleich, und man muss sich immer vergeblich fragen, welche Kunst denn eigentlich? Und wann und wie und von wem und für wen und unter welchen Umständen?

Gleichzeitig beschreibst du als charakteristisch für den Poststrukturalismus: »Es gibt kein Wesen hinter der Erscheinung«. Wenn die Welt und das Subjekt erst im Diskurs entstehen, wohin führen dann diese Fluchtlinien?

Die Fluchtlinien führen immer zu einer besseren Gesellschaft, zu einem emanzipatorischen Gefüge. Das ist zwar politisch gesehen sehr sympathisch, aber analytisch auch der große Knackpunkt der ganzen poststrukturalistischen Herangehensweise: Dass Kunst auch der Beruhigung und der Stabilisierung bestehender Verhältnisse dienen kann, wie in der materialistischen Tradition etwa von Arnold Hauser und später von Pierre Bourdieu betont wird, kann mit dieser normativen Haltung gar nicht mehr problematisiert werden. »Anders-Werden« wird immer als ein »Besser-Werden« bzw. »Emanzipatorischer-Werden« gedacht. Aus soziologischer Sicht ist das unbefriedigend.

Kunst im Feminismus

Du führst Julia Kristevas Gedanken an, dass die Kunst das Potential hat, Wirklichkeit zu verändern. Gerade für politische Strömungen der Befreiung könnte Kunst also eine zentrale Rolle spielen. Für die feministische Theorie konstatierst du allerdings, dass sie weitestgehend ohne Kunst auskommt. Warum spielt die Kunst in der feministischen Gesellschaftstheorie eine untergeordnete Rolle?

Die Kunst spielt ja überhaupt in linker Gesellschaftstheorie eine ambivalente Rolle. Selbst wenn ihr viel zu getraut wird, kommt sie oft nur sehr am Rande vor:  Betty Friedan oder Simone de Beauvoir, zwei Klassikerinnen der Zweiten Frauenbewegung(en), sind da keine Ausnahmen. Interessant ist ja vielleicht zunächst, dass selbst in »Der Weiblichkeitswahn« (Friedan) und in »Das andere Geschlecht« (de Beauvoir) Kunst überhaupt diskutiert wird, denn es geht ja vorrangig um ganz andere, viel allgemeinere Fragen. Dann lässt sich feststellen: Bildende Kunst wird einerseits als gesellschaftlicher Bereich beschrieben, in dem sexistisches Verhalten und patriarchale Normen ebenso vorherrschend sind wie überall sonst auch. De Beauvoir kritisiert hier, das fand ich besonders aufschlussreich, lange vor Bourdieu schon die »ästhetische Haltung« als eine, die Herrschaft reproduziert. Die Ausgrenzung der »weiblichen Erfahrung« wird kritisiert und schließlich ja auch zum Ausgangspunkt für feministisches Engagement in der Wissenschaft ebenso wie in der Kunst gemacht. Erst später gerät das Konzept der »weiblichen Erfahrung« dann selbst in die Kritik und wird als ahistorisch und zu vereinheitlichend und ausschließend problematisiert.

Andererseits wird die bildende Kunst aber auch als Bereich beschrieben, in denen es Frauen vielleicht doch eher und besser gelingt, ein eigenes finanzielles Auskommen zu erwirtschaften und vor allem auch sich selbst zu entfalten, als das damals in anderen Bereichen möglich war. Darin besteht die Ambivalenz.

Es lässt sich in dieser Hinsicht auch eine Kontinuität bis zu Judith Butler und den queer-feministischen Ansätzen aufzeigen, die einerseits auch eine starke heteronormative Matrix konstatieren und andererseits Subversion durch künstlerische Inszenierungspraktiken wie Drag-Performances für möglich halten.

Die feministische Kunsttheoretikerin Lucy Lippard hat sich in den Sechzigern mit dem Begriff der Arbeit und den Arbeitsbedingungen im künstlerischen Feld beschäftigt. Zu welchen Erkenntnissen kommt sie dabei aus einer feministischen Perspektive?

Lucy Lippard war als Kunstkritikerin auch an der Art Workers Coalition (1969–1971) beteiligt, die sich mit den Arbeitsbedingungen im Kunstfeld beschäftigt hat. Lippard beschreibt auch eine Nicht-Beachtung der Arbeit von Frauen, der Mehrfachbelastung durch Reproduktions- und Care-Arbeit. Sie plädiert in den 1970er Jahren klar für eine separatistische Strategie: also dafür, Frauenräume zu schaffen, um sich einerseits vor der ständigen, sexistischen Drangsalierung zu schützen und andererseits eine eigene Stärke auszubilden, um im männerdominierten Normalalltag bestehen zu können. Die Debatte um Safe Spaces ist also so neu nicht …

Um noch einmal auf Deleuze zurückzukommen: Welche Fluchtlinien werden der Kunst in der feministischen Theorie trotz allem zugesprochen?

Feministische Sozialtheorie beschäftigt sich in der Regel auch nicht stärker mit Kunst als andere sozialtheoretische Entwürfe auch. Im Third-Wave-Feminismus und der queer theory ist Kunst vielleicht etwas präsenter, einfach auch weil performativen Akten und Inszenierungspraktiken als solchen großer Stellenwert eingeräumt wird. Wenn wir davon ausgehen, dass etwa Geschlechtlichkeit durch ständig sich wiederholende Praxis hervorgebracht und stabilisiert wird und nicht von Natur aus ist wie sie ist, kommt es selbstverständlich auf Verschiebungen in solcher Praxis an. Dafür wurde dann gerne beispielgebend auf Kunstpraktiken zurückgegriffen. Das geschah sicherlich nicht zu Unrecht. Und nicht zuletzt wurden mit diesem Theorem seit den 1990er Jahren auch eine ganze aktivistische Szene mobilisiert.

Es gibt aber auch eine starke Kritik an der allzu euphorischen, triumphalistischen Sicht auf die eigene Geschichte. Angela McRobbie beispielsweise kritisiert aus feministischer Perspektive am Feminismus, dass dieser viel zu wenig reflektiert habe, dass Empowerment, wenn es nicht kollektiv gedacht und angegangen wird, sich sehr gut mit der ideologischen Anrufung des Neoliberalismus verträgt, dass jeder seines oder eben ihres Glückes Schmied und Schmiedin ist.

Wichtige Werke der Black Liberation
Kunst und Black Liberation

In der Theorie der Black Liberation ist die Kunst stärker im Fokus: Fanon hat ihren Anteil an struktureller Unterdrückung betont, aber auch ihre Möglichkeit der Überwindung dieser Unterdrückung: Wie definiert er diese ambivalente Rolle der Kunst?

Dass es in »Die Verdammten dieser Erde« überhaupt um Kunst geht, und gar nicht mal so wenig, ist ja in der Rezeption dieses Klassikers auch nicht sonderlich präsent. Fanon betont zum einen, dass bestimmte künstlerische Praktiken ohne die ihnen zugrundeliegenden Herrschaftsverhältnisse gar nicht zu verstehen sind. Das kommt in dem Zitat zum Ausdruck, mit dem ich auch das Kapitel überschrieben habe: »Ohne Unterdrückung und Rassismus kein Blues«. Er beschreibt zum anderen aber auch, wie die revolutionären, antikolonialen Bewegungen das Kunstschaffen selbst bis in die Farbgebung hinein beeinflussen. Das liest sich vielleicht manchmal etwas kurzschlüssig, ist aber im Prinzip schon ein lohnender Versuch, soziale Dynamiken im allgemeinen und konkrete Praktiken, die sonst häufig nur aus ihrer eigenen (Kunst-)Geschichte heraus erklärt werden, aufeinander zu beziehen.

Insgesamt ist die Rolle der Kunst bei Fanon aber auch merkwürdig unklar. Betont er ihre besondere Bedeutung in »Die Verdammten dieser Erde«, kommt sie etwa in »Aspekte der algerischen Revolution« mit keinem Wort vor.

Für den frühen Theoretiker der Schwarzen Diaspora W.E.B. Du Bois ist der Begriff des »doppelten Bewusstseins« zentral für Schwarze Kultur. Was ist darunter zu verstehen?

W.E.B. Du Bois beschreibt mit dem Begriff »doppeltes Bewusstein« ein Phänomen, das für die Rassismusforschung der Jahrzehnte danach ganz zentral wird: Die von Rassismus betroffenen Menschen können sich selbst auf der Grundlage gesellschaftlicher Machtverhältnisse nur durch die Augen der anderen wahrnehmen, und zwar jener anderen, die sie permanent abwerten und entwürdigen. »Doppeltes Bewusstsein« ist vielleicht ein missverständlicher Begriff, weil es eigentlich um unbewusste Formen der Wahrnehmung und des Selbst-Verständnisses geht. Aber das Phänomen benannt zu haben, war extrem wichtig, um begreifen zu können, wieso bei vielen von Rassismus unterdrückten Menschen dennoch eine Orientierung an den Normen und Werten der Dominanzgesellschaft vorherrscht (selbstverständlich nicht total und auch nicht bei allen gleichermaßen). Zugleich weist der Begriff darauf hin, dass eine Hinwendung zum „eigenen“ als Kraft des Widerstands alles andere als unproblematisch ist. Das »Eigene« – die eigenen Wurzeln, die eigene Kultur, was auch immer von den jeweiligen Bewegungen als Bezugspunkt angerufen wurde – ist immer schon kontaminiert vom Blick der Herrschenden, weil es nicht außerhalb der Geschichte existiert. Das macht Widerstand nicht unmöglich, aber es erschwert und verkompliziert ihn.

Du benennst zwei zentrale Tendenzen Schwarzer Perspektiven auf Kultur: eine solche, die die Stärkung Schwarzer Identität betont und die andere, die das Hybride von Kultur, das Unterlaufen klarer Einteilungen, in den Mittelpunkt stellt. Was sind die Argumente der jeweiligen Seiten?

Das ist selbstverständlich jetzt auch wieder etwas holzschnittartig, das bereits zusammengefasste noch einmal zusammenzufassen: Es gab ja verschiedene Bewegungen, die das Schwarze und das Schwarz-Sein nach den Erfahrungen der Sklaverei und des anhaltenden Rassismus aufgewertet sehen wollten, die Négritude- und die Black Power-Bewegung, der Schwarze Nationalismus, der Afrofuturismus usw. In unterschiedlichen Formen wurde daran appelliert, ausgehend von der gemeinsamen Unterdrückungserfahrung auch die politische Emanzipation in Gang zu setzen. Das Entwürdigte sollte in Stärke und utopisches Potenzial übersetzt werden.

Dagegen entwickelten sich verschiedene Argumentationen. Eine starke Strömung sah vor allem in den essenzialistisch gefassten Konzepten von kollektiver Identität eine Beschränkung von Denk- und Handlungsmöglichkeiten. Auch wenn durchaus gesehen wurde, dass Identitätspolitiken nicht einfach sogenannter ‚umgekehrter Rassismus‘ sind, sondern oft notwendige Reaktionen auf kollektiv erfahrene Unterdrückung sind, die zudem auch künstlerisch extrem produktiv waren, so wurde doch versucht, eine andere Vorstellung stark zu machen und binäre Aufteilungen eher zu unterlaufen statt zu festigen. Nur, indem man auf das Potenzial von Mischungen, von hybriden Praktiken setzt, so das Argument, entgeht man letztlich der rassistischen Matrix getrennter Lebensweisen.

Paul Gilroy und bell hooks kritisieren essentialistische Tendenzen des Schwarzen kulturellen Nationalismus, künstlerischer Ausdruck ist für sie nicht an identitäre Charakteristika gebunden. Welches Potential ergibt sich aus dieser Perspektive für die Kunst?

bell hooks und Paul Gilroy gehören auf jeden Fall zu jenen, die sich dagegen verwehren, dass Schwarze Künstler*innen sich auch mit »Schwarzen Themen« auseinandersetzen müssten. Sie leugnen nicht, dass die ethnische und rassialisierte Zuschreibung enorm prägend ist, aber sie wollen nicht zulassen, dass man sich dieser Prägung selbst ausliefert. Warum sollen Schwarze nicht Kunst machen können, die nichts oder nur wenig mit ihrem Schwarzsein zu tun hat? Da wird nicht das identitätspolitische Potenzial und alles, was daraus entstanden ist, geleugnet oder verworfen, sondern es wird versucht, den Raum für potenzielle Handlungen zu öffnen. Schwarze Künstler*innen, die sich nicht mit expliziten Inhalten äußerten, gerieten schnell in den doppelten Verdacht, sich distanzieren und nicht gegen Unterdrückung und für Befreiung kämpfen zu wollen. Es ging vor allem darum, diesen Verdacht abzuschütteln und vielfältigere Praxisformen zu ermöglichen. Politische Abstinenz war und ist nicht das Ziel von bell hooks oder Gilroy.

Kunst in der Postkolonialen Theorie

Auch in der postkolonialen Theorie wird der Kunst eine zentrale Rolle zugewiesen, etwa wenn Edward Said davon spricht, künstlerisches Schaffen sei ins die gesellschaftlichen Macht- und Herrschaftsverhältnisse eingelassen, indem es Bilder produziert. Welche Erkenntnisse ergeben sich für Said damit aus der Beschäftigung mit Kunst?

Saids Errungenschaft bestand ja zunächst darin aufzuzeigen, dass Kolonialismus nicht nur ein Prozess militärisch-bürokratischer Herrschaft ist, sondern immer auch mit der Formierung von Denk- und Wahrnehmungsweisen zu tun hat: Literatur und Kunst existierten demnach nicht nebenher, sondern sind oft direkte und indirekte Bestandteile kolonialer Eroberungen und Herrschaftssicherung gewesen.

Aber auch wenn Kunst und Literatur häufig dominanzkulturelle Arrangements unterstützen und sie nicht infrage stellen, so spricht Said der Kunstproduktion nicht bloß eine Herrschaft reproduzierende Rolle zu. Kunst kann auch hinterfragen, durch ironische Brechungen lächerlich machen und damit koloniale Selbstverständlichkeit brüchig machen. Er zeigt das mehr an der Literatur als an der bildenden Kunst, aber das gelte auch für sie.

Bei Homi Bhabbha steht der Begriff der kulturellen Hybridität im Zentrum seiner Theorie. Hybridität ist bei ihm ja keine Theorie, die die Spannung zwischen zwei Kulturen dialektisch auflöst; vielmehr wird der koloniale Blick umgedreht und gegen den Kolonisator gerichtet, die eigene Kultur verwandelt sich in etwas Unheimliches. Welchen Anteil hat die Kunst an dieser Verwandlung?

Als Literaturwissenschaftler hat Bhabha selbstverständlich auch, wenn nicht vor allem künstlerische Praktiken im weiteren Sinne im Blick. Die Kunst kann nach Bhabha in diesem Prozess eine große Rolle der Verkehrung und der Verwandlung spielen. Als Soziologe fehlt mir hier wie bei anderen dekonstuktivistischen und poststrukturalistischen Ansätzen ein wenig die Beantwortung der Frage, unter welchen Bedingungen künstlerische Praktiken auch erfolgreich neue soziale Tatsachen schaffen können. Wann wird der Blick verwandelt und wann nicht? Wieso gelingt es hier und da nicht? Ist die Verwandlung vorläufig oder langfristig durchgesetzt? Gelingt sie aus der Kunst selbst heraus oder nur mit Unterstützung außerkünstlerischer Ereignisse, Bewegungen, Strukturen? Das alles bleibt, finde ich jedenfalls, relativ schwammig.

Es sind ja gerade die Zwischenräume, der »Third Space«, die ins Zentrum gerückt werden. Ist die Kunst dieser Third Space oder ist es der Third Space, wo postkoloniale Kunst möglich wird?

Das ist eine gute Frage, die leider nicht so einfach zu beantworten ist. Leider, weil eine Antwort wirklich nottäte. Aus meiner Sicht lässt uns Bhabha im Unklaren darüber, ob bildende Kunst auf einen Third Space – eröffnet etwa von sozialen Bewegungen, aber auch von Diskursen und Praktiken im Allgemeinen – zurückgreift und aufbaut, oder ob sie selbst dieser Third Space ist, ihn mittels ihrer selbst konstituiert.

Im Kontext der Repräsentation spielt ja auch unter anderem dank der Theorien der postkolonialen Theorie mittlerweile die Frage eine zentrale Rolle, wer von welcher Position aus spricht und wer eben nicht sprechen kann. Gayatri Spivak schreibt, die Subalterne könne, selbst wenn sie es immer wieder versucht, nicht gehört werden. Auch das Hören ist hegemonial strukturiert. Spivak führt zur Untermauerung ihrer Thesen auch künstlerische Quellen an, vor allem aus der Literatur, gibt es bei ihr wie bei Bhabha in der Kunst auf der anderen Seite noch ein Potential, einen »Dritten Raum« zu eröffnen?

Ja, dieses Potenzial gibt es bei Spivak. Allerdings muss ich sagen, dass ich hier besonders enttäuscht war: Das ist alles so unsystematisch und sporadisch, was da zur Kunst geäußert wird – meist am Beispiel einzelner Künstler*innen oder künstlerischer Arbeiten –, dass es kaum mit der enormen Rolle ins Verhältnis gesetzt werden kann, die der Kunst für gesellschaftlichen Wandel eingeräumt wird. Anders gesagt: Wenn ich behaupte, Kunst könne das »westliche Denken« infrage stellen und durchkreuzen, könne festgeschriebene Identitäten unterlaufen und zu deren Auflösung beitragen usw., dann sollte ich mir auch die Mühe machen, die Bedingungen, unter denen das gelingen kann und die Mittel, mit denen das geschieht, etwas genauer und konsistenter unter die Lupe zu nehmen. Das geschieht aber nicht.

In dieser Hinsicht erscheinen mir die Ansätze der materialistischen Praxistheorie wesentlich plausibler (angefangen mit Antonio Gramsci über Raymond Williams bis zu Pierre Bourdieu). Sie fragen eben nach den Produktions- und Rezeptionsbedingungen und betrachten diese nicht als sekundär in Bezug auf die künstlerische Arbeit selbst.

Brüche

Abschließend schreibst du von den für dich drei zentralen Brüchen in der linken Auseinandersetzung mit Kunst: Worin bestehe diese Brüche?

Ich habe mich in der Darstellung der verschiedenen Strömungen ja bemüht, wirklich einen Überblick zu schaffen und nicht allem meine eigene Perspektive überzustülpen oder unterzuschieben. Aber eine neutrale Beobachtung gibt es selbstverständlich nicht. Aus meiner Sicht lassen sich drei Risse beschreiben, die die Auseinandersetzung mit der Kunst innerhalb linker Theorie geprägt haben: Der erste Riss geht durch die marxistische Debatte zwischen denjenigen Positionen, die Kunst als Widerspiegelung begreifen und sie auch gerne auf diese Funktion festlegen wollten auf der einen Seite und denjenigen auf der anderen, die in ihr mehr oder anderes als Widerspiegelung sahen, sie als autonom verstanden und damit letztlich auch an ältere Diskurse (also Kant, Schiller, Hegel) wieder anknüpften. Der zweite Riss geht dann im Grunde mitten durch die Kritische Theorie. Auf der einen Seite die Vertreter*innen und Verteidiger*innen des Autonomiekonzeptes, auf der anderen, angestoßen von Walter Benjamin, diejenigen, die sagen, Kunst ist nach Duchamps Ready Mades und nach der Möglichkeit ihrer technischen Reproduzierbarkeit als autonomes Objekt überhaupt nicht mehr fassbar und ohne ihre Kontexte nicht zu begreifen. Für solche Kontexte gibt es dann verschiedene Begriffe, Institution Kunst, Kunstwelt, Kunstfeld zum Beispiel. Der dritte Riss hinterfragt diese Kontexte selbst und zeigt auf, inwieweit die ganze Produktion, Rezeption und Zirkulation von Kunst und ihren Diskursen auf Privilegien beruht, deren Existenz aber in der Regel geleugnet wird. Dieser Riss lässt sich bei Bakunin schon ansetzen, er wird dann vom Feminismus und den Black Liberation-Theorien vertieft und vielleicht bei Bourdieu am systematischsten durchgearbeitet. „Der Schritt, den wir nicht machen können“, wie Raymond Williams einmal schrieb, ist analytisch gesehen auf jeden Fall der Schritt zurück zum Kunstwerk als solchem.

Alle drei Risse sind keine Paradigmenwechsel und sie schaffen auch nicht unbedingt unüberwindbar tiefe Kluften. Es gibt Brücken über die Risse hinweg und es existieren auch Positionen weiterhin, die von anderen als überholt angesehen werden: Es gibt z.B. auch nach Benjamin noch Vertreter*innen einer Kunstautonomie und nicht alles, was sie zu sagen haben, ist unplausibel.

Und zum Abschluss: Wo siehst du gegenwärtig künstlerische Produktionen und Positionen, die für dich bestimmte Kriterien linker Theorie erfüllen, die Fluchtwege aufzeigen, Ambivalenzen und Widersprüche kenntlich machen oder »Dritte Räume« eröffnen?

Das ist interessant, dass dann am Ende immer nach der Kunst gefragt wird. Nachdem es die ganze Zeit um theoretische Ansätze gegangen ist, müsste die Frage ja eigentlich lauten, welche Theorie oder welche Methodologie mir am plausibelsten erschiene, um über Kunst zu reden. Aber reden wir ruhig über Kunst selbst. Um hier nicht nur meinen Kunstgeschmack zum Besten zu geben, müsste natürlich für die jeweilige historische Situation genauer untersucht werden, welche der künstlerischen Strategien, auf das Politische einzuwirken, gut funktioniert haben, ohne dabei sich selbst als Kunst zu verraten. Ich habe das in einem anderen Buch am Beispiel konzeptueller Kunst im Mexiko der 1970er Jahre einmal genauer gemacht (»Kunst, Kampf und Kollektivität. Die Bewegung Los Grupos im Mexiko der 1970er Jahre«, Berlin 2019, edition tranvía/ Verlag Walter Frey).

In der Gegenwart erscheinen mir die Aktionen des peng! Kollektivs auf jeden Fall interessanter als diejenigen des »Zentrums für Politische Schönheit«. Ich habe das nervtötende Buch von deren Anführer Philipp Ruch gelesen (»Wenn nicht wir, wer dann?«), das hat mich in meiner Abneigung gegen deren ahistorische, selbstinszenatorische Arbeit nur bestätigt. Demgegenüber finde ich, dass es beispielsweise der New Yorker Künstlerin Andrea Geyer immer wieder sehr schön gelingt, subtile künstlerische Formsprachen für Auseinandersetzungen mit sozialen Kämpfen und sozialen Bewegungen zu finden. Jeremy Dellers Film »The Battle of Orgreave« (2001), in dem er eine der wichtigsten Auseinandersetzungen zwischen Streikposten und Polizei während des Bergarbeiterstreiks 1984 von professionellen Schlachtendarstellern nachspielen lässt, finde ich aber auch toll.

Grundsätzlich bin ich allerdings auch der Ansicht, dass selbst ein impressionistisches Gemälde wie Camille Pissarros »Die Fabrik in Pontoise« (1873) möglicherweise noch immer Fluchtlinien aufzeigen kann, selbst wenn man es sich gut auf Papierservietten oder auf Radiergummis aus dem Museumsshop vorstellen kann.