Publikation Viola Nordsieck: Harte Nüsse, oder: So stark wie du könnten alle sein.

Viola Nordsieck über die neoliberale Ideologie der Stärke in Zeiten von Corona

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Die Autorin Viola Nordsieck. Foto: Thomas Hausstein


»Es wäre der Solidarität in der Gesellschaft sicher förderlich, weniger von Stärke und Schwäche zu reden, als wären das persönliche Eigenschaften oder Leistungen.« Viola Nordsieck setzt sich in ihrem Beitrag mit der neoliberalen Ideologie der Stärke und der Vereinzelung angesichts von Corona auseinander. Viola Nordsieck ist Philosophin, freie Journalistin und angehende Lehrerin. Ihre Dissertation »Formen der Wirklichkeit und der Erfahrung« ist 2015 bei Karl Alber erschienen. Zur Zeit arbeitet sie an einem neuen Buch, einem kollektiven Projekt mit 14 Autor*innen, das 2020 im Neofelis Verlag in Berlin erscheint: »Kultur und Politik des prekären Lebens: Solidarität unter Schneeflocken.« Sie lebt mit ihren beiden Kindern in Berlin.

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Viola Nordsieck

Harte Nüsse

oder: So stark wie du könnten alle sein

»Wir sind alle in einem Boot!«, so hieß es hier und da während der ersten Zeit der Corona-Maßnahmen. Dass wir uns in einer globalen Pandemie befinden, wurde hierzulande zunächst nicht geglaubt, und in den ersten Wochen wurde gar nicht erst versucht, die Menschen in Deutschland zum Tragen von Masken zu animieren. Rassistische Stereotype von asiatisch erscheinenden Menschen, die Masken tragen, tauchen immer mal wieder in Filmen und Serien auf. Suggeriert wird dabei entweder eine irgendwie dekadente Überempfindlichkeit, oder es wird indirekt verwiesen – noch weniger lustig – auf eine anonyme, ununterscheidbare Masse von Menschen, die hinter ihren Masken nicht mehr zu erkennen sind. Im Gegensatz zu solchen rassistischen Stereotypen halten wir uns jedoch, als Europäerinnen und Europäer, für individuell und einzigartig. Globale Pandemie, so glaubten wir, findet anderswo statt, in Teilen der Welt, die wir gelernt haben, für rückständig zu halten. So nahmen wir die Sache zuerst nicht ernst. Gerade in Deutschland halten viele sich immer noch für unverwundbar. Viren und Bakterien raffen die Schwachen weltweit dahin, die kein Gesundheitssystem haben, überall dort, wo es eben einfach nicht so sauber und ordentlich ist wie in Deutschland. Tendenziell sind das dieselben Leute, die glauben, Deutschland hätte sich nach dem Krieg mit Fleiß und Treue und Ordnung selbst wieder aufgebaut.

Nach und nach kam auch in Deutschland an, dass eine globale Pandemie eben nicht nur anderswo stattfindet. Und da tauchte dann auch dieser Spruch auf: Wir sind alle in einem Boot! Nein, sind wir nicht, wandten andere ein. Wir erleben zwar denselben Sturm – schön, dass das endlich angekommen ist. Aber dabei sitzen wir in ganz unterschiedlichen Booten. Nämlich in einer Vier-Zimmer-Altbauwohnung, in der das Home Office vor allem heißt, dass man sich nicht umziehen muss und vielleicht an einem anderen Rechner arbeitet. Oder halt auf denselben 56 Quadratmetern, die sich vorher schon zu eng angefühlt haben, wenn alle zu Hause sind. Oder auf gar keinen Quadratmetern, sondern in einem Zelt oder in der Unterkunft für Wohnungslose.

Wenn Menschen in Deutschland in den Zeiten der Pandemie zu Solidarität aufrufen wollen, was erstmal eine gute Sache ist, dann reden sie meistens davon, »die Schwachen zu schützen«. Aber was soll das bedeuten, »schwach«? Und vor allem: Wann ist man stark? Ich würde behaupten: Was viele Menschen für ihre eigene Stärke halten und sich selbst als Leistung anrechnen, ist in Wahrheit etwas, was wir »Privileg« nennen. Es klingt nur so, wenn sich privilegierte Menschen selbst als »stark« bezeichnen, als hätten sie sich das verdient, oder wären einfach biologisch genetisch, ja quasi arisch gestählt. Durch den Sport und die gute Ernährung, für die sie Zeit und Geld schaffen können auf Grund ihrer Privilegien.

Aber das Boot, in dem wir jeweils sitzen, während der Sturm über uns kommt, das ist aus Privilegien gezimmert, und die kann man sich nicht einfach verdienen durch guten Willen und schwere Arbeit. Das Boot ist aus folgenden Elementen gebaut: Wieviel Geld hat eine Person zur Verfügung? Wie wichtig und wie ernst nimmt die Gesellschaft diese Person? Wie sehr bemühen sich andere und die Person selbst um ihre Gesundheit, um ihre Bildung und Förderung? Wieviel Zeit hat die Person für sich selbst zur Verfügung, ohne Stress und Eile, ohne Existenzangst? Wie stabil sind die Strukturen dieser Person, wie gut tragen ihre Beziehungen? Hat sie gelernt, ihre Gefühle und Bedürfnisse zu erkennen und zu äußern, weiß sie, was sie braucht? Gilt sie in einer Gemeinschaft als normal, als erfolgreich, als gelungen? Entspricht sie den Anforderungen, die – implizit – an uns alle gestellt werden?

Das sind einige Elemente, die der Person im sicheren Boot die Illusion von ihrer individuellen Stärke vermitteln mögen. Doch damit Menschen so denken und andere, die leider nur ein Stück Treibholz oder gar nichts abbekommen haben, verachten und für schwach halten, ist eine Erzählung von der individuellen Stärke nötig, eine Geschichte darüber, was für harte Nüsse wir doch sind, eine Geschichte darüber, dass eine natürliche Gemeinschaft doch ihre schwachen Elemente aussortieren würde, eine Geschichte über Fitness und Anpassung. Woher kommt diese Erzählung?

Ein Faktor ist sicherlich die liberale Vorstellung vom Individuum, die im Neoliberalismus aufgegriffen wurde. Das liberale Individuum war der Einzelne, der seine Rechte und seine Freiheit gegen Absolutismus und Feudalismus verteidigt. Im Neoliberalismus ging es darum, diesen Einzelnen gegen die populistischen Einflüsse von Faschismus und anderen Ideologien zu verteidigen. Die Freiheit der Individuen hängt aus neoliberaler Sicht daran, dass sie nicht beeinflussbar, nicht manipulierbar seien. Was dabei übersehen wurde, ist, dass auch der Liberalismus und der Neoliberalismus in all ihren Spielarten nicht ideologiefrei sind. Ihre ideologische Prägung ist die der individuellen Stärke, des Individuums als in sich geschlossene Einheit – unteilbar, aber auch undurchdringlich –, das Ideal der Meritokratie, in dem die Einzelnen durch Entschlossenheit und persönliche Stärke zum Motor ihres eigenen Erfolgs werden können.

Es sieht so aus, als hätte dieses Ideal im Deutschland nach dem Krieg mit der großen Nachkriegserzählung vom Wiederaufbau eine echt problematische Verschmelzung erlebt. Die individuelle Stärke und Leistung wird gerne als etwas typisch Deutsches gedacht, zäh wie Leder und hart wie Kruppstahl von innen, überlegen organisiert, sauber und ordentlich von außen. Gesundheit wird damit auch zu einer Leistung oder sogar, wie schon im Nationalsozialismus, zum Teil des deutschen Wesens. Mit einem esoterischen Anstrich versehen, findet man dieses Denken bei Impfgegnerinnen und Impfgegnern. Dass es eine globale Pandemie geben soll, die tatsächlich auch uns betrifft, kann man sich dann so wenig vorstellen, dass man das Ganze für einen elaboriert inszenierten Trick hält, um uns unserer Grundrechte zu berauben.

Hinzu kommt noch ein Ideal von Männlichkeit, das sich mit dieser Vorstellung vom Individuum verbindet. Der freie Einzelne aus dem Liberalismus, der aufgeklärt seine Rechte verteidigt, wurde meist ohnehin als männlich gedacht, die default-Option des Menschen durch alle europäischen Denktraditionen hindurch. Der Männerforscher Christoph May analysiert Männlichkeitsbilder in Serien und Filmen. Für die Standard hat er kürzlich die Neuauflage von Klaus Theweleits Buch »Männerphantasien« besprochen. Er beschreibt Theweleits »These vom faschistischen Körperpanzer, der sich durch Drill und Prügel schon früh als eine Art zweites Ich herausbildet und nach außen hin durch militärische Härte, Kälte und Gnadenlosigkeit wahrgenommen wird«. Die Kontinuität davon sieht Christoph May in aktuellen Bildern von Männlichkeit, die er als toxisch beschreibt: »emotionale Distanz, Hyperkonkurrenzdenken, Aggression, Einschüchterung, Bedrohung, Gewalt, sexuelle Objektivierung und abgrundtiefer Frauenhass.«

In einer abgemilderten, rationalisierten Form sind das die Eigenschaften des neoliberalen Individuums, die Eigenschaften, die wir harten Nüsse haben sollten, um uns als gelungene und vollwertige Mitglieder der Gesellschaft zu fühlen. Wir sollen unsere Emotionen im Griff haben, sie beherrschen, uns nicht von ihnen treiben lassen. Wir sollen in Konkurrenz bestehen, uns auf dem Markt behaupten, ökonomisch für uns selbst sorgen können. Dazu dürfen wir auch aggressiv oder einschüchternd werden, das heißt dann aber „bestimmt“ oder „selbstsicher“ auftreten und „offensiv verhandeln“. Was den Frauenhass betrifft, so äußert er sich in der neoliberal geprägten Gesellschaft durch die anhaltende Missachtung und Entwertung von Arbeiten, die als frauentypisch angesehen werden: emotionale und häusliche Sorgearbeit, Pflege und Hygienearbeit.

Und da sind wir schon wieder bei den sogenannten »Schwachen« der Gesellschaft, die genau besehen alles andere als schwach sind. Sie sind prekarisiert. Sie haben wenig Zugang zu Geld, Zeit und anderen Ressourcen. Sie haben Vorerkrankungen. Sie sind Kinder und als solche vollkommen abhängig von der Liebe und dem guten Willen der Menschen, die für sie sorgen. In der Pandemie sind sie der Gefahr von häuslicher Gewalt schutzlos ausgeliefert, haben niemanden mehr außerhalb der Kernfamilie, an den sie sich wenden können. Sie haben kein richtig gutes Boot gegen den Sturm. Es wäre der Solidarität in der Gesellschaft sicher förderlich, weniger von Stärke und Schwäche zu reden, als wären das persönliche Eigenschaften oder Leistungen. Statt dessen sollten wir mehr über die Boote reden und, so gut wir können, neue und bessere Boote bauen.