Nachricht | Antisemitismus (Bibliographie) - Deutsch-deutsche Geschichte - Antisemitismus Thomas Haury: Antisemitismus von links, Hamburg 2002.

«Kommunistische Ideologie, Nationalismus und Antizionismus in der frühen DDR»: Mit dem Buch von Thomas Haury ist ein für die Diskussion um linken Antisemitismus zentraler Begriff verbunden: «struktureller Antisemitismus»

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Peter Ullrich,

Mit dem Buch von Thomas Haury ist ein für die Diskussion um linken Antisemitismus zentraler Begriff verbunden, wenngleich manche Verwendungsweise in der allgemeinen Debatte und die Darstellung Haurys selbst unterschieden werden müssen. Es geht um den sogenannten «strukturellen Antisemitismus» oder – was wohl eine mehr selbsterklärende Benennung wäre ‒ um die innere Struktur der antisemitischen Ideologie und dazu komplementärer Ideologien.

Das Buch, das die antisemitisch-antizionistischen Kampagnen in der frühen DDR zum Hauptgegenstand hat, widmet sich zunächst ausführlich den begrifflichen und historischen Voraussetzungen. Dazu gehört die ausführliche Erörterung von Karl Marx’ Schrift «Zur Judenfrage». Danach folgt ein Kapitel zur SPD im Kaiserreich, ein Kapitel zum «Anti-Antisemitismus» des Lenin’schen Weltbildes und ein Kapitel zur KPD-Politik in der Weimarer Republik.

Ein entscheidender Impuls für die Debatte wurde Haurys begriffliches Herangehen. Der Antisemitismus wird von ihm als strukturiertes Weltbild vorgestellt, das durch drei inhaltsunabhängige Strukturmerkmale gekennzeichnet sei: Personifizierung, Manichäismus und Konstruktion identitärer Kollektive. Juden würden dem Antisemitismus als Verkörperungen der modernen Gesellschaft gelten, insbesondere ihrer ungeliebten und unverstandenen Seiten. Manichäisch trenne der Antisemitismus zudem zwischen «den Juden» einerseits, die für alles Böse verantwortlich gemacht würden, und dem als gut konstruierten Gegenstück, beispielsweise dem «Volk». Im Gegensatz zum Rassismus werde das jüdische Andere nicht als unterlegenes (letztlich abgespaltenes eigenes) konstruiert, sondern als überlegen, woraus auch die Vernichtungsperspektive resultiere. Wenn der Antisemitismus auch an den jahrhundertealten (christlichen) Antijudaismus anknüpfe, so gewinne er doch seit seiner Herausbildung als moderner Antisemitismus im 19. Jahrhundert noch ein entscheidendes Strukturmoment in seiner Funktion bei der Schaffung als homogen imaginierter nationaler Kollektive.

Haury weist mit Nachdruck darauf hin, dass es gerade im Fall der deutschen Nationalbewegung im 19. Jahrhundert von Beginn an einen virulenten Antisemitismus (neben der besonderen «Erbfeindschaft» zu Frankreich) gegeben hat. Ihm zufolge stellen die Juden quasi das «ideale» Gegenbild für den Nationalismus und Patriotismus dar, da sie nicht nur ein Feindbild im Innern abgeben können, sondern durch die Spezifik der jüdischen Existenz quasi als Gegenprinzip zur Nation an sich fungieren (vgl. auchKlaus Holz' «Nationaler Antisemitismus»). Haury zeigt, dass das Weltbild des Marxismus-Leninismus  ‒ welches keinesfalls mit dem Marxismus und allen seinen Spielarten gleichzusetzen ist, sondern die herrschende erstarrte Doktrin der staatssozialistischen Länder bezeichnet  ‒ strukturelle (nicht inhaltliche) Gemeinsamkeiten mit dem antisemitischen Weltbild aufweist.

Nach Haury gab es schon im Lenin’schen Weltbild diese Strukturelemente, auch wenn dieser sich nie antisemitisch geäußert habe, sondern ein klarer Gegner des Antisemitismus gewesen sei. Aber er ist, besonders nach 1917, also im Bürgerkrieg, grenzenlos in seinem manichäischen Hass gegenüber Feind*innen des Kommunismus und auch gegenüber bloßen Abweichler*innen von seiner Position, welche er mit aller Härte bekämpft habe – auf Basis seiner orthodoxen und mit absolutem Geltungsanspruch versehenen Theorie.

In der DDR-Ideologie der 1950er Jahre hätten sich diese Merkmale noch einmal zugespitzt. Als die zwei in unüberwindlichem Gegensatz zueinanderstehenden Lager galten der «Imperialismus» auf der einen Seite und die «friedlichen Völker» auf der anderen. Auf die deutsche Situation bezogen standen sich die sozialistische DDR und die «faschistische BRD» feindlich gegenüber. In diesem Bild war Haury zufolge, besonders in der heißen Phase des Kalten Krieges Anfang der 1950er Jahre, keinerlei Platz für Zwischentöne (Strukturtyp 1: Manichäismus). Auch die Personalisierung (Strukturtyp 2) der gesellschaftlichen Verhältnisse fand Anfang der 1950er Jahre in der Kampagne gegen den Kosmopolitismus ihren Höhepunkt, sowohl in der Deutung des Nationalsozialismus als Werk einiger Vertreter der Finanzoligarchie als auch in der Darstellung des neuen Feindes als «Clique» von «Wallstreet-Kapitalisten», in der Rede von der «okkulten Herrschaft» der «Dollarkönige». Zugleich wurde im Zuge der Terrorwelle ein innerer Feind konstruiert, bestehend aus «Agenten», «Saboteuren», «Parasiten» und «Volksfeinden». Hinzugekommen ist außerdem seit dem Ende der 1940er Jahre ein «extremer Nationalismus» (Strukturtyp 3: Konstruktion identitärer Kollektive), der zum Teil auf der kommunistischen Ideologie basierte, die ihren Antinationalismus ohnehin schon lange abgelegt hatte, und zum Teil auf der strategischen Herausforderung der Legitimation der SED-Herrschaft, da mit ihren sozialistischen Programmpunkten alleine nicht die erhoffte Zustimmung in der Bevölkerung zu erzielen war.

«Haurys Arbeit legt nahe, dass die Schaltstelle einer dem Antisemitismus affinen Strukturerweiterung des Marxismus-Leninismus dort liegt, wo realpolitisch die ‹Nation› zum Problem bzw. der Kommunismus zur Staatsideologie wird»,[i] und er damit seinen Universalismus – verstanden als Bewegung für ein gutes Leben für alle Menschen ‒ zugunsten eines nationalen, Herrschaft stabilisierenden Partikularismus aufgibt. Ganz klar widerspricht der Antisemitismus dem Inhalt linker Weltbilder, auch dem der SED, und doch wurde er in dieser Situation manifest, wo sich ein manichäisch-verschwörungstheoretischer ML-Abklatsch des Marxismus mit der Notwendigkeit der nationalen Legitimierung und Integration konfrontiert sah.

Keineswegs ist dies jedoch als deterministische Beziehung misszuverstehen. Insbesondere das Phänomen des sekundären Antisemitismus, des Antisemitismus nach und wegen Auschwitz, habe dabei (neben strategischen Aspekten und dem Druck aus der Sowjetunion) als Katalysator fungiert, da die Verbrechen der NS-Volksgemeinschaft die Idee einer deutschen Nation nachhaltig desavouiert hatten, weswegen die DDR im Akt der nationalen Neukonstituierung also auch kein Interesse an einer kritischen Aufarbeitung des eigenen Versagens beziehungsweise der eigenen Verbrechen haben konnte.
 


[i] Franka Maubach, 2003, hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/type=rezbuecher&id=2144 [3.5.2012].
 


Haury, Thomas: Antisemitismus von links. Kommunistische Ideologie, Nationalismus und Antizionismus in der frühen DDR, Hamburg 2002: Hamburger Edition (527 S., 35 €).