Nachricht | Die Linke und die Kunst – Jens Kastner im Gespräch.

Teil 3: Vom Poststruktualismus zur Postkolonialen Theorie

Der Soziologe und Kunsthistoriker Jens Kastner (Foto: privat)

Die Linke und die Kunst – Jens Kastner im Gespräch.

Teil 3: Vom Poststruktualismus zur Postkolonialen Theorie

In seinem 1956 erschienenen Buch »Avantgarde Film« hat Peter Weiss geschrieben: »Diese avantgardistischen Arbeiten aus dem Film, der Malerei, der Literatur, haben die Katastrophe überlebt. Sie bilden keinen Abschluss, sondern stehen immer noch an einem Anfang. Sie lassen sich weiterentwickeln, fortsetzen. Je konformistischer die äußere Ordnung wird, desto lebendiger wird diese respektlose, aufwieglerische Kunst. Wir brauchen wieder gewaltsame künstlerische Handlungen – in unserem satten, zufriedenen Schlafzustand.« Auf der Suche nach einer Filmsprache, die an die Experimente der historischen Avantgarden anknüpfen und eine beunruhigende Wirkung auf das Publikum haben sollte, mit dem Ziel einer »Veränderung der Gesellschaftsordnung«, engagierte sich Weiss ab Beginn der fünfziger Jahre in der Stockholmer »Arbeitsgruppe für Film« und setzte sich zugleich mit der Geschichte des experimentellen Films auseinander, eine Arbeit, die in sein Buchprojekt »Avantgarde Film« einfloss. Weiss versteht sich als linekr Künstler, der an die Kraft der Kunst für die Veränderung von Gesellschaft glaubte. Allein, die Linke Theoriebildung war in dieser Hinsicht nicht immer so optimistisch. 

Der Wiener Soziologe und Kunsthistoriker Jens Kastner hat mit »Die Linke und die Kunst« eine erste Überblicksdarstelleung zur Rolle von Kunst in Linker Theorie vorgelegt, die eine Bogen von Marx und Engels über den Situationismus, den Feminismus bis hin zur postkolonialen Theorie schlägt. Für unsere Webseite haben wir Kastner zum Gespräch über den Blick der Linken auf die Kunst gebeten, das in drei Teilen veröffentlicht wird. Das Buch ist im Unrast Verlag erschienen. 

Das Interview führte unser Mitarbeiter Jonas Engelmann.

Vom Poststruktualismus zur Postkolonialen Theorie

Du hast das »Anders-Werden« angesprochen, das vor allem bei Deleuze und Guattari im Mittelpunkt steht. Dieses »Werden« ist ja vielfach ausgeformt. In ihrem Buch über Kafka sprechen sie vom »Tier-Werden« bei Kafka, bei dem es um die Suche nach einem Ausweg geht, um eine »Fluchtlinie, auch ohne sich von der Stelle zu rühren, selbst wenn man im Käfig bleibt«. Ist das die Rolle der Kunst für Deleuze und Guattari – als Repräsentanten des Poststrukturalismus: Das Aufzeigen von Fluchtlinien?

Es ist sogar häufig mehr als die Möglichkeit, Fluchtlinien aufzuzeigen, die der Kunst zugetraut wird: Nicht nur darauf hinzuweisen, dass es etwas anderes gibt oder geben könnte und sollte, sondern selbst dieses Andere zu sein, also die Flucht oder das Entfliehen nicht nur aufzuzeigen, sondern zu verkörpern, zu praktizieren.

Das Kafka-Buch von Deleuze und Guattari hat mir vor allem deshalb gut gefallen, weil es sich durch die Entwicklung von Kriterien von vielen, nicht nur poststrukturalistischen Texten zur Kunst abhebt. Also, statt das allgemeine »Kunst ist …« oder »die Kunst soll …«, werden hier konkret anhand eines Werkes Kriterien für gute oder richtige oder politisch zu fördernde Kunst entwickelt: weniger das Subjekt als die Verkettung von Aussagen in den Blick zu nehmen, mit der hegemonialen Sprache zu brechen und das Individuelle ans Gesellschaftliche zu binden. Was Kafka laut Delueze/ Guattari tut und gut macht, ließe sich dann eben als Maßstab an andere Kunst anlegen. Später (in »Was ist Philosophie?«) schreiben aber auch Deleuze und Guattari wieder – wie so viele andere – ganz allgemein von »der Kunst«, die »ist« und »soll« oder beides zugleich, und man muss sich immer vergeblich fragen, welche Kunst denn eigentlich? Und wann und wie und von wem und für wen und unter welchen Umständen?

Gleichzeitig beschreibst du als charakteristisch für den Poststrukturalismus: »Es gibt kein Wesen hinter der Erscheinung«. Wenn die Welt und das Subjekt erst im Diskurs entstehen, wohin führen dann diese Fluchtlinien?

Die Fluchtlinien führen immer zu einer besseren Gesellschaft, zu einem emanzipatorischen Gefüge. Das ist zwar politisch gesehen sehr sympathisch, aber analytisch auch der große Knackpunkt der ganzen poststrukturalistischen Herangehensweise: Dass Kunst auch der Beruhigung und der Stabilisierung bestehender Verhältnisse dienen kann, wie in der materialistischen Tradition etwa von Arnold Hauser und später von Pierre Bourdieu betont wird, kann mit dieser normativen Haltung gar nicht mehr problematisiert werden. »Anders-Werden« wird immer als ein »Besser-Werden« bzw. »Emanzipatorischer-Werden« gedacht. Aus soziologischer Sicht ist das unbefriedigend.

Du führst Julia Kristevas Gedanken an, dass die Kunst das Potential hat, Wirklichkeit zu verändern. Gerade für politische Strömungen der Befreiung könnte Kunst also eine zentrale Rolle spielen. Für die feministische Theorie konstatierst du allerdings, dass sie weitestgehend ohne Kunst auskommt. Warum spielt die Kunst in der feministischen Gesellschaftstheorie eine untergeordnete Rolle?

Die Kunst spielt ja überhaupt in linker Gesellschaftstheorie eine ambivalente Rolle. Selbst wenn ihr viel zu getraut wird, kommt sie oft nur sehr am Rande vor:  Betty Friedan oder Simone de Beauvoir, zwei Klassikerinnen der Zweiten Frauenbewegung(en), sind da keine Ausnahmen. Interessant ist ja vielleicht zunächst, dass selbst in »Der Weiblichkeitswahn« (Friedan) und in »Das andere Geschlecht« (de Beauvoir) Kunst überhaupt diskutiert wird, denn es geht ja vorrangig um ganz andere, viel allgemeinere Fragen. Dann lässt sich feststellen: Bildende Kunst wird einerseits als gesellschaftlicher Bereich beschrieben, in dem sexistisches Verhalten und patriarchale Normen ebenso vorherrschend sind wie überall sonst auch. De Beauvoir kritisiert hier, das fand ich besonders aufschlussreich, lange vor Bourdieu schon die »ästhetische Haltung« als eine, die Herrschaft reproduziert. Die Ausgrenzung der »weiblichen Erfahrung« wird kritisiert und schließlich ja auch zum Ausgangspunkt für feministisches Engagement in der Wissenschaft ebenso wie in der Kunst gemacht. Erst später gerät das Konzept der »weiblichen Erfahrung« dann selbst in die Kritik und wird als ahistorisch und zu vereinheitlichend und ausschließend problematisiert.

Andererseits wird die bildende Kunst aber auch als Bereich beschrieben, in denen es Frauen vielleicht doch eher und besser gelingt, ein eigenes finanzielles Auskommen zu erwirtschaften und vor allem auch sich selbst zu entfalten, als das damals in anderen Bereichen möglich war. Darin besteht die Ambivalenz.

Es lässt sich in dieser Hinsicht auch eine Kontinuität bis zu Judith Butler und den queer-feministischen Ansätzen aufzeigen, die einerseits auch eine starke heteronormative Matrix konstatieren und andererseits Subversion durch künstlerische Inszenierungspraktiken wie Drag-Performances für möglich halten.

Die feministische Kunsttheoretikerin Lucy Lippard hat sich in den Sechzigern mit dem Begriff der Arbeit und den Arbeitsbedingungen im künstlerischen Feld beschäftigt. Zu welchen Erkenntnissen kommt sie dabei aus einer feministischen Perspektive?

Lucy Lippard war als Kunstkritikerin auch an der Art Workers Coalition (1969–1971) beteiligt, die sich mit den Arbeitsbedingungen im Kunstfeld beschäftigt hat. Lippard beschreibt auch eine Nicht-Beachtung der Arbeit von Frauen, der Mehrfachbelastung durch Reproduktions- und Care-Arbeit. Sie plädiert in den 1970er Jahren klar für eine separatistische Strategie: also dafür, Frauenräume zu schaffen, um sich einerseits vor der ständigen, sexistischen Drangsalierung zu schützen und andererseits eine eigene Stärke auszubilden, um im männerdominierten Normalalltag bestehen zu können. Die Debatte um Safe Spaces ist also so neu nicht …

Um noch einmal auf Deleuze zurückzukommen: Welche Fluchtlinien werden der Kunst in der feministischen Theorie trotz allem zugesprochen?

Feministische Sozialtheorie beschäftigt sich in der Regel auch nicht stärker mit Kunst als andere sozialtheoretische Entwürfe auch. Im Third-Wave-Feminismus und der queer theory ist Kunst vielleicht etwas präsenter, einfach auch weil performativen Akten und Inszenierungspraktiken als solchen großer Stellenwert eingeräumt wird. Wenn wir davon ausgehen, dass etwa Geschlechtlichkeit durch ständig sich wiederholende Praxis hervorgebracht und stabilisiert wird und nicht von Natur aus ist wie sie ist, kommt es selbstverständlich auf Verschiebungen in solcher Praxis an. Dafür wurde dann gerne beispielgebend auf Kunstpraktiken zurückgegriffen. Das geschah sicherlich nicht zu Unrecht. Und nicht zuletzt wurden mit diesem Theorem seit den 1990er Jahren auch eine ganze aktivistische Szene mobilisiert.

Es gibt aber auch eine starke Kritik an der allzu euphorischen, triumphalistischen Sicht auf die eigene Geschichte. Angela McRobbie beispielsweise kritisiert aus feministischer Perspektive am Feminismus, dass dieser viel zu wenig reflektiert habe, dass Empowerment, wenn es nicht kollektiv gedacht und angegangen wird, sich sehr gut mit der ideologischen Anrufung des Neoliberalismus verträgt, dass jeder seines oder eben ihres Glückes Schmied und Schmiedin ist.

In der Theorie der Black Liberation ist die Kunst stärker im Fokus: Fanon hat ihren Anteil an struktureller Unterdrückung betont, aber auch ihre Möglichkeit der Überwindung dieser Unterdrückung: Wie definiert er diese ambivalente Rolle der Kunst?

Dass es in »Die Verdammten dieser Erde« überhaupt um Kunst geht, und gar nicht mal so wenig, ist ja in der Rezeption dieses Klassikers auch nicht sonderlich präsent. Fanon betont zum einen, dass bestimmte künstlerische Praktiken ohne die ihnen zugrundeliegenden Herrschaftsverhältnisse gar nicht zu verstehen sind. Das kommt in dem Zitat zum Ausdruck, mit dem ich auch das Kapitel überschrieben habe: »Ohne Unterdrückung und Rassismus kein Blues«. Er beschreibt zum anderen aber auch, wie die revolutionären, antikolonialen Bewegungen das Kunstschaffen selbst bis in die Farbgebung hinein beeinflussen. Das liest sich vielleicht manchmal etwas kurzschlüssig, ist aber im Prinzip schon ein lohnender Versuch, soziale Dynamiken im allgemeinen und konkrete Praktiken, die sonst häufig nur aus ihrer eigenen (Kunst-)Geschichte heraus erklärt werden, aufeinander zu beziehen.

Insgesamt ist die Rolle der Kunst bei Fanon aber auch merkwürdig unklar. Betont er ihre besondere Bedeutung in »Die Verdammten dieser Erde«, kommt sie etwa in »Aspekte der algerischen Revolution« mit keinem Wort vor.

Für den frühen Theoretiker der Schwarzen Diaspora W.E.B. Du Bois ist der Begriff des »doppelten Bewusstseins« zentral für Schwarze Kultur. Was ist darunter zu verstehen?

W.E.B. Du Bois beschreibt mit dem Begriff »doppeltes Bewusstein« ein Phänomen, das für die Rassismusforschung der Jahrzehnte danach ganz zentral wird: Die von Rassismus betroffenen Menschen können sich selbst auf der Grundlage gesellschaftlicher Machtverhältnisse nur durch die Augen der anderen wahrnehmen, und zwar jener anderen, die sie permanent abwerten und entwürdigen. »Doppeltes Bewusstsein« ist vielleicht ein missverständlicher Begriff, weil es eigentlich um unbewusste Formen der Wahrnehmung und des Selbst-Verständnisses geht. Aber das Phänomen benannt zu haben, war extrem wichtig, um begreifen zu können, wieso bei vielen von Rassismus unterdrückten Menschen dennoch eine Orientierung an den Normen und Werten der Dominanzgesellschaft vorherrscht (selbstverständlich nicht total und auch nicht bei allen gleichermaßen). Zugleich weist der Begriff darauf hin, dass eine Hinwendung zum „eigenen“ als Kraft des Widerstands alles andere als unproblematisch ist. Das »Eigene« – die eigenen Wurzeln, die eigene Kultur, was auch immer von den jeweiligen Bewegungen als Bezugspunkt angerufen wurde – ist immer schon kontaminiert vom Blick der Herrschenden, weil es nicht außerhalb der Geschichte existiert. Das macht Widerstand nicht unmöglich, aber es erschwert und verkompliziert ihn.

Du benennst zwei zentrale Tendenzen Schwarzer Perspektiven auf Kultur: eine solche, die die Stärkung Schwarzer Identität betont und die andere, die das Hybride von Kultur, das Unterlaufen klarer Einteilungen, in den Mittelpunkt stellt. Was sind die Argumente der jeweiligen Seiten?

Das ist selbstverständlich jetzt auch wieder etwas holzschnittartig, das bereits zusammengefasste noch einmal zusammenzufassen: Es gab ja verschiedene Bewegungen, die das Schwarze und das Schwarz-Sein nach den Erfahrungen der Sklaverei und des anhaltenden Rassismus aufgewertet sehen wollten, die Négritude- und die Black Power-Bewegung, der Schwarze Nationalismus, der Afrofuturismus usw. In unterschiedlichen Formen wurde daran appelliert, ausgehend von der gemeinsamen Unterdrückungserfahrung auch die politische Emanzipation in Gang zu setzen. Das Entwürdigte sollte in Stärke und utopisches Potenzial übersetzt werden.

Dagegen entwickelten sich verschiedene Argumentationen. Eine starke Strömung sah vor allem in den essenzialistisch gefassten Konzepten von kollektiver Identität eine Beschränkung von Denk- und Handlungsmöglichkeiten. Auch wenn durchaus gesehen wurde, dass Identitätspolitiken nicht einfach sogenannter ‚umgekehrter Rassismus‘ sind, sondern oft notwendige Reaktionen auf kollektiv erfahrene Unterdrückung sind, die zudem auch künstlerisch extrem produktiv waren, so wurde doch versucht, eine andere Vorstellung stark zu machen und binäre Aufteilungen eher zu unterlaufen statt zu festigen. Nur, indem man auf das Potenzial von Mischungen, von hybriden Praktiken setzt, so das Argument, entgeht man letztlich der rassistischen Matrix getrennter Lebensweisen.

Paul Gilroy und bell hooks kritisieren essentialistische Tendenzen des Schwarzen kulturellen Nationalismus, künstlerischer Ausdruck ist für sie nicht an identitäre Charakteristika gebunden. Welches Potential ergibt sich aus dieser Perspektive für die Kunst?

bell hooks und Paul Gilroy gehören auf jeden Fall zu jenen, die sich dagegen verwehren, dass Schwarze Künstler*innen sich auch mit »Schwarzen Themen« auseinandersetzen müssten. Sie leugnen nicht, dass die ethnische und rassialisierte Zuschreibung enorm prägend ist, aber sie wollen nicht zulassen, dass man sich dieser Prägung selbst ausliefert. Warum sollen Schwarze nicht Kunst machen können, die nichts oder nur wenig mit ihrem Schwarzsein zu tun hat? Da wird nicht das identitätspolitische Potenzial und alles, was daraus entstanden ist, geleugnet oder verworfen, sondern es wird versucht, den Raum für potenzielle Handlungen zu öffnen. Schwarze Künstler*innen, die sich nicht mit expliziten Inhalten äußerten, gerieten schnell in den doppelten Verdacht, sich distanzieren und nicht gegen Unterdrückung und für Befreiung kämpfen zu wollen. Es ging vor allem darum, diesen Verdacht abzuschütteln und vielfältigere Praxisformen zu ermöglichen. Politische Abstinenz war und ist nicht das Ziel von bell hooks oder Gilroy.

Auch in der postkolonialen Theorie wird der Kunst eine zentrale Rolle zugewiesen, etwa wenn Edward Said davon spricht, künstlerisches Schaffen sei ins die gesellschaftlichen Macht- und Herrschaftsverhältnisse eingelassen, indem es Bilder produziert. Welche Erkenntnisse ergeben sich für Said damit aus der Beschäftigung mit Kunst?

Saids Errungenschaft bestand ja zunächst darin aufzuzeigen, dass Kolonialismus nicht nur ein Prozess militärisch-bürokratischer Herrschaft ist, sondern immer auch mit der Formierung von Denk- und Wahrnehmungsweisen zu tun hat: Literatur und Kunst existierten demnach nicht nebenher, sondern sind oft direkte und indirekte Bestandteile kolonialer Eroberungen und Herrschaftssicherung gewesen.

Aber auch wenn Kunst und Literatur häufig dominanzkulturelle Arrangements unterstützen und sie nicht infrage stellen, so spricht Said der Kunstproduktion nicht bloß eine Herrschaft reproduzierende Rolle zu. Kunst kann auch hinterfragen, durch ironische Brechungen lächerlich machen und damit koloniale Selbstverständlichkeit brüchig machen. Er zeigt das mehr an der Literatur als an der bildenden Kunst, aber das gelte auch für sie.

Bei Homi Bhabbha steht der Begriff der kulturellen Hybridität im Zentrum seiner Theorie. Hybridität ist bei ihm ja keine Theorie, die die Spannung zwischen zwei Kulturen dialektisch auflöst; vielmehr wird der koloniale Blick umgedreht und gegen den Kolonisator gerichtet, die eigene Kultur verwandelt sich in etwas Unheimliches. Welchen Anteil hat die Kunst an dieser Verwandlung?

Als Literaturwissenschaftler hat Bhabha selbstverständlich auch, wenn nicht vor allem künstlerische Praktiken im weiteren Sinne im Blick. Die Kunst kann nach Bhabha in diesem Prozess eine große Rolle der Verkehrung und der Verwandlung spielen. Als Soziologe fehlt mir hier wie bei anderen dekonstuktivistischen und poststrukturalistischen Ansätzen ein wenig die Beantwortung der Frage, unter welchen Bedingungen künstlerische Praktiken auch erfolgreich neue soziale Tatsachen schaffen können. Wann wird der Blick verwandelt und wann nicht? Wieso gelingt es hier und da nicht? Ist die Verwandlung vorläufig oder langfristig durchgesetzt? Gelingt sie aus der Kunst selbst heraus oder nur mit Unterstützung außerkünstlerischer Ereignisse, Bewegungen, Strukturen? Das alles bleibt, finde ich jedenfalls, relativ schwammig.

Es sind ja gerade die Zwischenräume, der »Third Space«, die ins Zentrum gerückt werden. Ist die Kunst dieser Third Space oder ist es der Third Space, wo postkoloniale Kunst möglich wird?

Das ist eine gute Frage, die leider nicht so einfach zu beantworten ist. Leider, weil eine Antwort wirklich nottäte. Aus meiner Sicht lässt uns Bhabha im Unklaren darüber, ob bildende Kunst auf einen Third Space – eröffnet etwa von sozialen Bewegungen, aber auch von Diskursen und Praktiken im Allgemeinen – zurückgreift und aufbaut, oder ob sie selbst dieser Third Space ist, ihn mittels ihrer selbst konstituiert.

Im Kontext der Repräsentation spielt ja auch unter anderem dank der Theorien der postkolonialen Theorie mittlerweile die Frage eine zentrale Rolle, wer von welcher Position aus spricht und wer eben nicht sprechen kann. Gayatri Spivak schreibt, die Subalterne könne, selbst wenn sie es immer wieder versucht, nicht gehört werden. Auch das Hören ist hegemonial strukturiert. Spivak führt zur Untermauerung ihrer Thesen auch künstlerische Quellen an, vor allem aus der Literatur, gibt es bei ihr wie bei Bhabha in der Kunst auf der anderen Seite noch ein Potential, einen »Dritten Raum« zu eröffnen?

Ja, dieses Potenzial gibt es bei Spivak. Allerdings muss ich sagen, dass ich hier besonders enttäuscht war: Das ist alles so unsystematisch und sporadisch, was da zur Kunst geäußert wird – meist am Beispiel einzelner Künstler*innen oder künstlerischer Arbeiten –, dass es kaum mit der enormen Rolle ins Verhältnis gesetzt werden kann, die der Kunst für gesellschaftlichen Wandel eingeräumt wird. Anders gesagt: Wenn ich behaupte, Kunst könne das »westliche Denken« infrage stellen und durchkreuzen, könne festgeschriebene Identitäten unterlaufen und zu deren Auflösung beitragen usw., dann sollte ich mir auch die Mühe machen, die Bedingungen, unter denen das gelingen kann und die Mittel, mit denen das geschieht, etwas genauer und konsistenter unter die Lupe zu nehmen. Das geschieht aber nicht.

In dieser Hinsicht erscheinen mir die Ansätze der materialistischen Praxistheorie wesentlich plausibler (angefangen mit Antonio Gramsci über Raymond Williams bis zu Pierre Bourdieu). Sie fragen eben nach den Produktions- und Rezeptionsbedingungen und betrachten diese nicht als sekundär in Bezug auf die künstlerische Arbeit selbst.

Abschließend schreibst du von den für dich drei zentralen Brüchen in der linken Auseinandersetzung mit Kunst: Worin bestehe diese Brüche?

Ich habe mich in der Darstellung der verschiedenen Strömungen ja bemüht, wirklich einen Überblick zu schaffen und nicht allem meine eigene Perspektive überzustülpen oder unterzuschieben. Aber eine neutrale Beobachtung gibt es selbstverständlich nicht. Aus meiner Sicht lassen sich drei Risse beschreiben, die die Auseinandersetzung mit der Kunst innerhalb linker Theorie geprägt haben: Der erste Riss geht durch die marxistische Debatte zwischen denjenigen Positionen, die Kunst als Widerspiegelung begreifen und sie auch gerne auf diese Funktion festlegen wollten auf der einen Seite und denjenigen auf der anderen, die in ihr mehr oder anderes als Widerspiegelung sahen, sie als autonom verstanden und damit letztlich auch an ältere Diskurse (also Kant, Schiller, Hegel) wieder anknüpften. Der zweite Riss geht dann im Grunde mitten durch die Kritische Theorie. Auf der einen Seite die Vertreter*innen und Verteidiger*innen des Autonomiekonzeptes, auf der anderen, angestoßen von Walter Benjamin, diejenigen, die sagen, Kunst ist nach Duchamps Ready Mades und nach der Möglichkeit ihrer technischen Reproduzierbarkeit als autonomes Objekt überhaupt nicht mehr fassbar und ohne ihre Kontexte nicht zu begreifen. Für solche Kontexte gibt es dann verschiedene Begriffe, Institution Kunst, Kunstwelt, Kunstfeld zum Beispiel. Der dritte Riss hinterfragt diese Kontexte selbst und zeigt auf, inwieweit die ganze Produktion, Rezeption und Zirkulation von Kunst und ihren Diskursen auf Privilegien beruht, deren Existenz aber in der Regel geleugnet wird. Dieser Riss lässt sich bei Bakunin schon ansetzen, er wird dann vom Feminismus und den Black Liberation-Theorien vertieft und vielleicht bei Bourdieu am systematischsten durchgearbeitet. „Der Schritt, den wir nicht machen können“, wie Raymond Williams einmal schrieb, ist analytisch gesehen auf jeden Fall der Schritt zurück zum Kunstwerk als solchem.

Alle drei Risse sind keine Paradigmenwechsel und sie schaffen auch nicht unbedingt unüberwindbar tiefe Kluften. Es gibt Brücken über die Risse hinweg und es existieren auch Positionen weiterhin, die von anderen als überholt angesehen werden: Es gibt z.B. auch nach Benjamin noch Vertreter*innen einer Kunstautonomie und nicht alles, was sie zu sagen haben, ist unplausibel.

Und zum Abschluss: Wo siehst du gegenwärtig künstlerische Produktionen und Positionen, die für dich bestimmte Kriterien linker Theorie erfüllen, die Fluchtwege aufzeigen, Ambivalenzen und Widersprüche kenntlich machen oder »Dritte Räume« eröffnen?

Das ist interessant, dass dann am Ende immer nach der Kunst gefragt wird. Nachdem es die ganze Zeit um theoretische Ansätze gegangen ist, müsste die Frage ja eigentlich lauten, welche Theorie oder welche Methodologie mir am plausibelsten erschiene, um über Kunst zu reden. Aber reden wir ruhig über Kunst selbst. Um hier nicht nur meinen Kunstgeschmack zum Besten zu geben, müsste natürlich für die jeweilige historische Situation genauer untersucht werden, welche der künstlerischen Strategien, auf das Politische einzuwirken, gut funktioniert haben, ohne dabei sich selbst als Kunst zu verraten. Ich habe das in einem anderen Buch am Beispiel konzeptueller Kunst im Mexiko der 1970er Jahre einmal genauer gemacht (»Kunst, Kampf und Kollektivität. Die Bewegung Los Grupos im Mexiko der 1970er Jahre«, Berlin 2019, edition tranvía/ Verlag Walter Frey).

In der Gegenwart erscheinen mir die Aktionen des peng! Kollektivs auf jeden Fall interessanter als diejenigen des »Zentrums für Politische Schönheit«. Ich habe das nervtötende Buch von deren Anführer Philipp Ruch gelesen (»Wenn nicht wir, wer dann?«), das hat mich in meiner Abneigung gegen deren ahistorische, selbstinszenatorische Arbeit nur bestätigt. Demgegenüber finde ich, dass es beispielsweise der New Yorker Künstlerin Andrea Geyer immer wieder sehr schön gelingt, subtile künstlerische Formsprachen für Auseinandersetzungen mit sozialen Kämpfen und sozialen Bewegungen zu finden. Jeremy Dellers Film »The Battle of Orgreave« (2001), in dem er eine der wichtigsten Auseinandersetzungen zwischen Streikposten und Polizei während des Bergarbeiterstreiks 1984 von professionellen Schlachtendarstellern nachspielen lässt, finde ich aber auch toll.

Grundsätzlich bin ich allerdings auch der Ansicht, dass selbst ein impressionistisches Gemälde wie Camille Pissarros »Die Fabrik in Pontoise« (1873) möglicherweise noch immer Fluchtlinien aufzeigen kann, selbst wenn man es sich gut auf Papierservietten oder auf Radiergummis aus dem Museumsshop vorstellen kann.