Nachricht | Kranke Körper, gesunder Widerstand

Slave Cubelas Text ist ein Versuch, nicht wegen sondern trotz der Corona-Epidemie, eine linke Gesundheitspolitik "von unten" theoretisch einzubetten und mögliche Formen/Strategien derselben anzureißen. Ungleichheit tötet Menschen in großem Maßstab.“ Nein, dieser Satz bezieht sich nicht, wie man vielleicht denken mag, auf die gegenwärtige globale Corona-Krise. Er findet sich vielmehr im 2008 vorgelegten Abschlussbericht der WHO-Kommission zu den Sozialen Determinanten der Gesundheit. Auch wenn dieser WHO-Bericht in der breiteren Öffentlichkeit bis zum heutigen Tag kaum Beachtung gefunden hat, so belegt sein Erscheinungsdatum, dass das öffentliche Gerede, die Corona-Pandemie gefährde alle gleichermaßen, schlicht Unsinn ist, da Gesundheitsrisiken bereits in „normalen“ Zeiten sozial ungleich verteilt sind. Das ist zwar für jeden Sozial-Epidemiologen ein alter Hut, aber gerade für Einsteiger belegt der über 250 Seiten lange Bericht faktenreich eine unbequeme und verleugnete Wahrheit: Herrschaft steigert die Gesundheitsrisiken der Beherrschten! Slave Cubelas Text ist ein Versuch, nicht wegen sondern trotz der Corona-Epidemie, eine linke Gesundheitspolitik "von unten" theoretisch einzubetten und mögliche Formen/Strategien derselben anzureißen.

Zum Autor:

Slave Cubela schreibt seit 2003 für den "express. Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit" (https://express-afp.info/); diverse Publikationen zu den Themenfeldern Klassentheorie, Geschichte der Arbeiterklassen, Organizing sowie zu Geschichte und Strategien der Massenpersuasion; Praxiserfahrungen hat er zudem als Betriebsrat in der Behindertenhilfe, Gewerkschaftsorganizer und in verschiedenen linken Initiativen gesammelt.

Kranke Körper, gesunder Widerstand - Umrisse eines Green Organizing in Zeiten des Katastrophen-Kapitalismus

1) Herrschaft als Gesundheitskrise – schon lange vor Corona

„Ungleichheit tötet Menschen in großem Maßstab.“ Nein, dieser Satz bezieht sich nicht, wie man vielleicht denken mag, auf die gegenwärtige globale Corona-Krise. Er findet sich vielmehr im 2008 vorgelegten Abschlussbericht der WHO-Kommission zu den Sozialen Determinanten der Gesundheit. Auch wenn dieser WHO-Bericht in der breiteren Öffentlichkeit bis zum heutigen Tag kaum Beachtung gefunden hat, so belegt sein Erscheinungsdatum, dass das öffentliche Gerede, die Corona-Pandemie gefährde alle gleichermaßen, schlicht Unsinn ist, da Gesundheitsrisiken bereits in „normalen“ Zeiten sozial ungleich verteilt sind. Das ist zwar für jeden Sozial-Epidemiologen ein alter Hut, aber gerade für Einsteiger belegt der über 250 Seiten lange Bericht faktenreich eine unbequeme und verleugnete Wahrheit: Herrschaft steigert die Gesundheitsrisiken der Beherrschten!

Um nur ein paar Aspekte zu benennen: ein geringeres Einkommen, belastende Wohnverhältnisse, schlechtere Qualität des Essens, entfremdete Arbeitszusammenhänge, körperlich harte Arbeit, ausbleibende persönliche Entwicklungschancen, multifaktorieller Stress, erschwerter Zugang zum Gesundheitswesen, gesellschaftliche Stigmatisierung – diese und einige andere Faktoren führen dazu, dass auch bürgerliche Herrschaftsverhältnisse sich in der überproportionalen Krankheit beherrschter Klassen und Gruppen niederschlagen. Nur zwei Beispiele. In einem vergleichsweisen wohlhabenden Land wie Deutschland besteht ein Unterschied in der Lebenserwartung zwischen den reichsten und ärmsten Bevölkerungsgruppen von etwa 10 Jahren. In den USA wiederum sinkt die durchschnittliche Lebenserwartung in der Gesamtbevölkerung seit 2016 und Hauptursache dieser Entwicklung ist der rasant ansteigende „Tod aus Verzweiflung“, also die immense Zunahme von Opioid-Opfern, Alkoholismus-Toten und Suiziden in den ärmsten US-Schichten. Und auch wenn die endgültige Geschichte der Corona-Krise noch lange nicht geschrieben ist: wird es irgendjemand überraschen, wenn die Armen und Deklassierten den größten Todeszoll gezahlt haben sollten? Nein, es wäre vielmehr, sozialmedizinisch betrachtet, nur folgerichtig.

2) Der Körper als unbestechliches Herrschaftsgedächtnis

Die Beschäftigtenbefragung der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (https://www.baua.de/DE/Angebote/Publikationen/Berichte/F2417-2.html (10.3.2020))  findet alle vier Jahre mit einem entsprechend der Sozialstruktur der BRD zusammengestellten Pool von etwas mehr als 20.000 Befragten statt. Wirft man einen Blick auf die 2018er-Befragung, dann scheint es um die deutsche Arbeitswelt vor der Corona-Krise geradezu phantastisch bestellt gewesen zu sein. 90,7% der Befragten sind nämlich entweder zufrieden oder sogar sehr zufrieden mit ihrer Arbeit insgesamt, 92,4% sind (sehr) zufrieden mit Art und Inhalt ihrer Tätigkeit, 88,5% sind (sehr) zufrieden mit ihrer beruflichen Position, 88,4% sind (sehr) zufrieden mit den Möglichkeiten ihre Fähigkeiten einzubringen, 84,6% sind (sehr) zufrieden mit dem Betriebsklima, 82,9% sind (sehr) zufrieden mit dem Vorgesetzten, 81,2% sind (sehr) zufrieden mit ihren körperlichen Arbeitsbedingungen, 80,7% sind (sehr) zufrieden mit ihrer derzeitigen Arbeitszeit und immer noch 73,8% sind (sehr) zufrieden mit dem Einkommen.

Man könnte als kritischer Geist versucht sein diese Resultate anzuzweifeln, den Machern der Studie sogar Unredlichkeit unterstellen, wenn, ja wenn in der gleichen Studie nicht auch andere Ergebnisse zu finden wären. Denn auf die auf die Frage: „Sagen Sie mir bitte, ob die folgenden gesundheitlichen Beschwerden bei Ihnen in den letzten 12 Monaten während der Arbeit bzw. an Arbeitstagen aufgetreten sind. Uns interessieren die Beschwerden, die häufig vorkamen“, kommt es zu folgenden Resultaten: 49,5% klagen über häufige Schmerzen im Nacken- und Schulterbereich, 47,8% durchleben häufig allgemeine Müdigkeit, Mattigkeit oder Erschöpfung, 46,2% haben häufig Schmerzen im unteren Rücken sowie Kreuzschmerzen, 35,5% sind häufig von körperlicher Erschöpfung geplagt, 33,6% von Kopfschmerzen, 29,5% von nächtlichen Schlafstörungen und 25,9% von emotionaler Erschöpfung.

Diese tiefe Zerrissenheit zwischen der subjektiven Wahrnehmung der deutschen Arbeitswelt und den mannigfachen körperlichen Folgen derselben mag zunächst überraschen. Allein, aus sozialmedizinischer Sicht betrachtet, enthält diese scheinbare Widerspruch zwei wichtige Implikationen für eine linke Gesundheits- bzw. Biopolitik. Erstens: blickt man auf die oben genannten Ergebnisse vor dem Hintergrund von Nancy Kriegers Konzept des Embodiments, dann wird Kriegers Überzeugung fast idealtypisch bestätigt, dass Menschen die sie umgebende materielle und soziale Welt inkorporieren. Viel unbestechlicher als das Bewusstsein speichert also der Körper die diversen sozialen Erfahrungen des Subjekts. Zweitens wiederum: wenn der Körper ein soziales Herrschaftsgedächtnis darstellt, dann ist es für Widerstandspraxen notwendig, dass die Individuen einen sozial-reflexiven Zugang zu diesem persönlichen Erfahrungsreservoir finden. Gelingt dies nicht, dann erscheint der Widerstand des Körpers dem Betroffenen lediglich als Krankheit mit natürlichen Ursachen.

3) Medizin als asymmetrisches Machtverhältnis und revolutionäre Utopie

Wenn Menschen in der bürgerlichen Gesellschaft krank werden, dann passiert zunächst zweierlei mit ihnen. Zum ersten wirft die Krankheit den Kranken auf sich selber zurück, d.h. Krankheit wird im Anfang als ausschließlich individuelles Schicksal wahrgenommen. Zum zweiten wiederum haben die erkrankten Individuen im besten Fall Zugang zu einem Gesundheitssystem, in dem ausgebildete Fachkräfte vor dem Hintergrund eines naturobjektivistischen Wissenskanon eine Diagnose erstellen und dann eine Heilbehandlung verordnen. Das ist vielen von uns dermaßen vertraut, dass man dabei gerne übersieht, dass der übliche Gesundungsprozess in bürgerlichen Verhältnissen sich also in einem zumindest zu Beginn asymmetrischen Machtverhältnis konstituiert. Auf der einen Seite dieses Verhältnisses steht ein bedrängtes Individuum, das wenn überhaupt eine ungefähre Ahnung hat, warum es krank geworden ist und das darüber hinaus eine schnelle Lösung für sein Leid sucht. Auf der anderen Seite stehen gesellschaftlich breit anerkannte Experten, die über einen immensen naturwissenschaftlichen Wissensvorsprung verfügen und die dem Individuum sowohl erklären, warum es krank geworden ist aber auch was es tun muss, um gesund zu werden. Auch wenn wir dieses Machtverhältnis hier womöglich überzeichnen, da z.B. viele Mediziner das betroffene Individuum im ätiologischen Prozess durch Gespräche mit einbeziehen, ändert dies nichts an dem wesentlichen Aspekt dieses Verhältnisses: den reflexiven Zugang zum Körper des Individuums dominieren die gesellschaftlich anerkannten Experten, sie haben weit überwiegend das letzte Wort.   

Wie könnte nun ein anderes Modell als das der Experten-Medizin aussehen? Einfach gesprochen könnte Medizin auch ein demokratischer Prozess sein. Medizin als demokratischer Prozess würde dabei neben anderem beinhalten: die Rekrutierung soziologisch geschulter und demokratisch orientierter Ärzte und Care-Worker; der kollektive Austausch von Kranken untereinander; die Integration der Wahrnehmung des Kranken in den Gesundungsprozess; eine konsequente Präventionspolitik, die soziale Konflikte nicht scheut; genügend Zeit für die Kranken, um den Gesundungsprozess in Ruhe vollziehen zu können; ermutigende Perspektiven für das Individuum nach dem Gesundungsprozess, die sicherstellen, dass es nicht wieder in krankmachende Verhältnisse zurückkehren muss. Manche dieser Punkte finden heute schon in der medizinischen Praxis zumindest ansatzweise Beachtung. Zusammengenommen jedoch machen diese Punkte deutlich, dass Medizin als demokratischer Prozess eine revolutionäre Utopie ist. Insofern verwundert es kaum, dass die WHO-Kommission zu den sozialen Determinanten der Gesundheit ihren Bericht mit einem listig-vielsagenden Hinweis versah, wenn es da heißt: „Es war jenseits des Auftrags und der Kompetenz der Kommission, eine neue internationale ökonomische Ordnung zu entwerfen, die eine Balance findet zwischen den Bedürfnissen der gesamten Weltbevölkerung nach sozialer und ökonomischer Entwicklung, gesundheitlicher Gerechtigkeit und der Dringlichkeit, auf den Klimawandel zu reagieren.“

4) Körper-Mapping oder wie kann gesunder Widerstand beginnen

„Ungehorsam gegen Autoritäten ist eine der natürlichsten und gesundesten Handlungen.“ Wenn Michael Hardt und Toni Negri mit dieser Bemerkung den wichtigen Hinweis geben, dass Widerstand gegen Herrschaft selbst eine therapeutische Funktion hat, dann stellt sich damit auch die Frage, wie man besagten Widerstand initiieren und befördern kann. Das scheint auf den ersten Blick ein kleines Problem zu sein, denn ohne Zweifel gibt es in der Linken viele entsprechende Strategien und Traditionen. Doch hält man vor dem Hintergrund des bisher Umrissenen einen Moment inne, dann fällt auf, dass Gesundheit in der Widerstandspraxis der Linken zwar immer ein soziales Kampffeld war, aber eben selten mehr als das. Freiheit, Gleichheit, Solidarität, Frieden, das waren und sind neben anderen die großen Kampfbegriffe der Linken - aber warum eigentlich nicht auch Gesundheit? Dies ist umso merkwürdiger, weil gerade arme und hart arbeitende Menschen als Bezugspunkt linker Praxis die ganzheitliche Bedeutung der Gesundheit für ihr Leben in Alltagsgesprächen sehr hoch veranschlagen. Und denkt man das vor dem Hintergrund des bisher Entwickelten weiter, dann hat sich hier bereits tatsächlich ein Pfad der Widerständigkeit entlang des Themenfeldes Gesundheit aufgetan. Denn wenn sich die Herrschaftsspuren der sozialen Verhältnisse unbestechlich in die Körper der Individuen einschreiben und Herrschaft darauf basiert diese sozialen Inkorporierungen zu blockieren, dann gälte es den Körper gewissermaßen zum Sprechen zu bringen. Präziser formuliert: wenn die Individuen ihr inkorporiertes Leid als individuelles Schicksal verstehen, welches sie allenfalls durch einen guten Arzt naturwissenschaftlich lindern können, dann gilt es ihnen die soziale Dimension des eigenen Körperleids erfahrbar zu machen.

Genau dieses Ziel hat das sog. Körper-Mapping. Anhand einer großen doppelten Zeichnung der Körpervor- und der Körperrückseite wird dabei eine Gruppe von Menschen (die als Arbeiter, Wohnende, Flüchtlinge etc. in gemeinsamen sozialen Zusammenhängen leben) gebeten mit Punkten jene Stellen des Körpers zu markieren, an denen sie Schmerzen haben. Zudem gibt es die Möglichkeit psychosoziale Probleme durch Punkte in einer Wolke über den beiden Körpersilhouetten zu kennzeichnen. Wenn die Teilnehmer fertig sind, fragt man sie zunächst als Organizer, ob die gemeinsame Bepunktung auf den Körperzeichnungen irgendeine Auffälligkeit hat und was diese Auffälligkeit ihrer Ansicht nach bedeuten könnte. Zudem bittet man dann in einer zweiten Runde jeden Anwesenden seine Punktsetzungen zu erläutern und gerne auch mögliche Ursachen der eigenen Gesundheitsprobleme zu diskutieren.  

Ohne Zweifel braucht es hierbei ein gewisses Vertrauen in der Runde der Anwesenden, aber das Ergebnis ist erstaunlich. Die Anwesenden merken meist mit Blick auf die bepunkteten Körperkarten schnell, dass sie mit „ihren“ Krankheitszonen keineswegs alleine stehen. Diese Erkenntnis sorgt verständlicherweise für Zorn, macht aber auch die Bedeutung der sie umgebenden sozialen Verhältnisse für ihre Krankheit überdeutlich. Außerdem kommt es meist zu sehr intensiven, persönlich-politischen Gesprächen, die bei vielen einzelnen Anwesenden lange nachhallen, die aber auch die Gruppenkohäsion stärken, also den Ausgangspunkt für kollektiven Widerstand.

5) Ehemaliges Körper-Organizing im Betrieb oder die italienische Arbeitermedizin

Bringt Körper-Mapping den Körper der Individuen zum Sprechen, dann gilt es jedoch für erfolgreichen Widerstand in weitergehenden Bahnen zu denken. Ein interessanter Bezugspunkt bei solchen weitergehenden Gedankenspielen ist naheliegender Weise das US-amerikanische Organizing. Denn, dass das US-amerikanische Organizing der europäischen und bundesdeutschen Linken in den letzten knapp 15 Jahren eine ganze Reihe entscheidender Impulse gegeben, wird inzwischen von kaum jemandem ernstlich bezweifelt. Allein, es gibt hier einen großen Haken: Zur Geschichte des US-Organizing gehört nämlich auch der Umstand, dass es trotz all seiner strategischen Raffinesse und punktueller Erfolge weder in den USA, noch in Großbritannien und schon gar nicht in Deutschland die politische Großwetterlage entscheidend beeinflussen konnte. Die Linke sollte also hinter die Horizonte des US-Organizing keinesfalls mehr zurückfallen, allein sie muss nicht nur für die Zwecke eines Körper-Organizings gleichzeitig Ausschau halten nach einer wirksamen und erfolgversprechenden Weiterentwicklung des US-Organizings.

Meines Erachtens könnte hier die italienische Arbeitermedizin der 1970er Jahre wichtige Impulse geben. Denn indem die Corona-Krise ja auch impliziert, dass im Zeitalter des „Katastrophen-Kapitalismus“ (Klein) epidemiologische Krisen zur neuen Normalität werden, so wäre es fahrlässig, den bislang einzigen, gelungenen Versuch zu ignorieren, der es schaffte in einem westlichen Industrieland Gesundheit landesweit zu einem massenmobilisierenden Thema zu machen. Die vielen Berührungspunkte, die es zwischen dem US-Organizing und der italienischen Arbeitermedizin gibt, sind zudem ein weiterer Grund, damit ein beide Ansätze synthetisierendes Körper-Organizing der Linken neue Möglichkeiten eröffnen könnte. Da ist zum ersten das Prinzip der Nicht-Delegierung in der italienischen Arbeitermedizin, dem im US-Organizing der Verzicht auf das gewerkschaftliche Stellvertreterprinzip entspricht. Radikaler Kerngedanke der italienischen Arbeitermedizin ist dabei, wie Helmut Wintersberger formuliert, „dass die Arbeiter in den Fabriken ihre Gesundheit selber schützen müssen, das heißt: Der Gesundheitsschutz darf an niemanden delegiert werden, nicht einmal an die Gewerkschaften.“ Da ist zum zweiten die homogene Arbeitergruppe der italienischen Arbeitermedizin, die einige Ähnlichkeiten mit dem Aktivenkreis im US-Organizing hat. Denn auch wenn die homogene Arbeitergruppe nicht freiwillig bestimmt wird, sondern vielmehr durch den Umstand, dass sie jene Arbeiter zusammenbringt, die in der gleichen Arbeitsumwelt tätig sind und deshalb auch das gleiche Gesundheitsrisiko haben, so agiert die homogene Arbeitergruppe sonst ähnlich wie ein Aktivenkreis. Da ist schließlich das dritte Prinzip der italienischen Arbeitermedizin, die kollektive Bewertung, dem im US-Organizing die Arbeit an der Nachhaltigkeit des Aktivenkreises entspricht. Denn damit die homogene Gruppe Zufriedenheit oder Unzufriedenheit mit den sie umgebenden Arbeitsverhältnissen anhaltend allein feststellen kann, braucht es eine kollektive Entwicklung der homogenen Gruppe, denn sie muss ihre Arbeitsumwelt verstehen, sie muss sich weiterbilden, sie muss ehrfurchtslos Experten hinzuziehen können, es braucht letztlich avancierte Erhebungs- und Interpretationsverfahren gerade auch um Gefahren frühzeitig zu erkennen.  

Auch wenn das nur erste Hinweise sind: es sollte in Zeiten des Katastrophen-Kapitalismus Mut machen, dass ein solch fortschrittliches gewerkschaftliches Gesundheitsprogramm wie in Italien bereits einmal Realität war und dass zudem sein radikaler Reformismus keine Floskel blieb, sondern dass große Unternehmen wie FIAT oder Olivetti genötigt waren tarifvertragliche Regelungen zum Themenfeld Gesundheit zuzugestehen.

6) Aktuelles Körper-Organizing im Stadtteil oder die Bewegung für linke Polikliniken

In der überaus lesenswerten Zeitschrift „Gesundheit braucht Politik“ des Vereins demokratischer Ärzte und Ärztinnen (vdää) zeichneten vor einiger Zeit (https://gbp.vdaeae.de/images/cover/group/GbP_Sonderausgabe-Soz-Determinanten_2015.pdf (Abruf: 12.5.2020)) zwei Beiträge am Beispiel des Stadtteilgesundheitszentrums in Hamburg-Wilhelmsburg den faszinierenden Versuch nach, vermittels linker Polikliniken zu einer „flächendeckenden Einführung von commons-basierten Gesundheitszentren“ in Deutschland zu gelangen. Anders formuliert also: blickt ein betriebliches Körper-Organizing leider noch in die italienische Vergangenheit, dann gibt es neben Hamburg inzwischen in Berlin, Leipzig und Dresden Gesundheits-Initiativen, die ein stadtteilbezogenes Körper-Organizing bereits in die Tat umsetzen oder intensiv an der Umsetzung arbeiten.

Zwei Aussagen in einem fiktiven Interview „aus der Zukunft“ sind in dieser Sonderausgabe hervorzuheben, weil sie sowohl zeigen, was diese Bewegung leitet, aber auch, weil sie das bisher hier Ausgeführte unterstreichen. Erstens: „In der Poliklinik wollen wir den komplexen Prozessen, durch die sich die gesellschaftlichen Verhältnisse auf den Körper auswirken, Rechnung tragen. Kurzgefasst: Nicht nur Viren oder Bakterien wirken auf Deinen Körper ein, sondern genauso Rassismus, dem Du täglich ausgesetzt bist, Dein Job oder Deine Arbeitslosigkeit, die Sorge um Deine Wohnsituation, die Art, welche Strategien Du anwendest, um mit Problemen umzugehen usw. Egal, über welches Angebot Du also in die Poliklinik kommst – sei es Rechtsberatung, ein Bildungsangebot, den Pflegedienst oder eben die medizinische Sprechstunde - , wir versuchen gemeinsam mit Dir, einen individuellen Ansatz zu finden, um Deine Belastungssituation zu verändern.“ Und zweitens: „Denn in dem Moment, in dem Du Dir klar machst, dass Deine Lebensumstände Dich in vielerlei Hinsicht krankmachen können, begreifst Du, dass Du noch so sehr darauf achten kannst, Dich gut zu ernähren und Sport zu machen, ohne daran etwas zu ändern. An diesem Punkt setzt die kollektive Dimension von unserer Gesundheitsarbeit an: Gemeinsam können wir dafür kämpfen, dass sich die oft als natürliche dargestellten gesellschaftlichen Verhältnisse, in denen viele arm und einige wenige reich sind, verändern. Und im Umkehrschluss ist das wieder ein wichtiger Moment für die individuelle Gesundheitssituation, denn wenn Du merkst, dass Du gemeinsam mit anderen die Welt, in der Du lebst, gestalten kann, stärkst Du Dich selbst.“

Doch es ist nicht nur der ganzheitlich-soziale Zugang an das Problemfeld Gesundheit/Krankheit, der die Bewegung für linke Polikliniken sehr interessant macht, in dieser Bewegung schimmern weitergedacht faszinierende politische Möglichkeiten auf. Gelänge etwa eine flächendeckende Etablierung solcher Gesundheitszentren, dann entstünde ein starkes biopolitisches Netzwerk, dessen soziale Basisverankerung und subjektiv-körperliche Problemnähe es viel enger mit den beherrschten Klassen verknüpfen würde, als dies Parteien und Gewerkschaften zumeist tun. Zudem könnte man die unergiebigen, weil oftmals abstrakten ideologischen Positionierungsdebatten innerhalb der Linken ein gutes Stück weit beenden. Denn schließlich wäre die umfassende körperliche Gesundheit der Individuen auch ein unbestechlicher Maßstab, um sicherzustellen, welche poliklinische Praxis tatsächlich emanzipativ wirksam wäre.

7) Körper und Natur – Wege zum Green Organizing

Ähnlich wie bürgerliche Herrschaftsverhältnisse nicht spurlos an den menschlichen Körpern vorbeigehen, hinterlassen sie auch ihren Abdruck in der uns umgebenden Natur. Dieser gemeinsame Ursprung von ökologischen und epidemiologischen Krisen macht zwar gerade vor dem Hintergrund der Corona-Krise ein Green Organizing naheliegend, in dem der Kampf gegen Naturzerstörung und Gesundheitskrise miteinander verzahnt wird. Allein: diese Verknüpfung ist alles andere als ein Selbstgänger. In der Hoch-Zeit der italienischen Arbeitermedizin gelang es beispielsweise nie die tiefe Kluft zwischen den gesundheitsbewegten Gewerkschaften und der Ökologiebewegung zu überwinden. Entsprechend sind einige Anmerkungen angebracht, um Hemmnisse aber auch Chancen einer ganzheitlichen linke Biopolitik „von unten“ qua Green Organizing zumindest kurz zu umreißen.

Erstens: Krankheit muss man sich leisten können, Umweltschutz auch. Das mag provozieren, aber hart gegen sich und den eigenen Körper zu sein, ist für viele Individuen in einer prekarisierten Arbeitswelt wie der gegenwärtigen eine nicht unerhebliche Frage der eigenen Reproduktion. Für viele dieser Menschen frisst das Hier und Jetzt die Zukunft schlicht auf. Zudem gibt es eine gesellschaftliche Ahnung davon, dass eine Lösung der ökologischen Krise womöglich nur mit Wohlstandsverlusten erreicht werden kann. Vor diesem Hintergrund sind die Startbedingungen für eine linke Biopolitik „von unten“ alles andere als verheißungsvoll, der Weg vom emanzipativen Körper-Organizing zu einer umfassenden biopolitischen Praxis, die Ökologie- und Gesundheitskrise als Green Organizing zusammen angeht, erscheint weit. Zweitens: ohne Zweifel besteht im Green Organizing die anhaltende Gefahr, dass Betroffene z.B. ihre Erkrankungen weiterhin auf natürliche Ursachen zurückführen und entsprechend einseitige medikamentöse Therapien oder High-Tech-Behandlungen vorziehen. Das muss gar kein böser Wille sein, denn Selbstermächtigungsprozesse qua Körper-Organizing sind zeitaufwendig und intensiv, der Gang zu Arzt und Apotheke ist hingegen schnell erledigt und verspricht zumindest Schmerzlinderung. Sehr ähnliche „expertokratische“ Selbst-Unterwerfungen zeigen sich ebenso in der aktuellen Klima- und Unweltdebatte. Denn militantes basisdemokratisches Handeln ist die Ausnahme, stattdessen hofft der Großteil der Gesellschaft das technologische Innovationen und vernünftige Leader die ökologische Krise bald überwinden. Drittens: stellen sich jedoch im betrieblichen wie stadtteilbezogenen Organizing erste Erfolge ein, dann ist es häufig nur ein kleiner Schritt von der eigenen Gesundheit zu ökologischen Fragen. Egal ob im Betrieb oder im Stadtteil, möchte man Krankheiten verstehen oder ihnen noch besser vorbeugen, dann kommt man auf Dauer nicht umhin die Umweltbedingungen genau zu hinterfragen und damit ein Umweltbewusstsein zu entwickeln. Viertens schließlich: die Klimabewegung steht vor der Frage, ob es ihr auf Dauer lieber ist, von politischen und ökonomischen Leadern an schönen Orten angehört zu werden, nur damit hernach kaum etwas geschieht, oder ob das Zuhören im Körper-Organizing ihr nicht womöglich mehr bringt. Vertreter der italienischen Arbeitermedizin haben hervorgehoben, dass in jenen Betrieben, wo das System des betrieblichen Körper-Organizings besonders gut funktionierte, der Schritt für viele Arbeiter vom Gesundheits-Engagement zur eingeforderten Mitsprache bei Unternehmensentscheidungen ein „natürlicher“ war. Erfolgreiches Körper-Organizing führt also über kurz oder lang thematisch und strategisch in den Arbeitsprozess als Herzkammer der auch ökologisch bedeutsamen, bürgerlichen Macht-Verhältnisse.

8) Corona-Krise und Green Organizing

Wie in der klassischen Arbeiterbewegung das Warten auf die zyklischen Krisen nur ein Moment der emanzipativen Hoffnungen darstellte, bieten auch die biopolitischen Krisen des Katastrophen-Kapitalismus (Klein) lediglich Möglichkeiten aber eben keine teleologischen Notwendigkeiten. Beispielsweise ist die Corona-Krise ohne Zweifel für viele Individuen ein gesellschaftliches Signal, dass die ökologischen Krisen ab jetzt immer unvermittelter in globale Gesundheitskrisen münden werden. Entsprechend wäre es dumm, wenn die Linke das Thema Gesundheit jetzt nicht konsequent aufgreifen würde. Allein es wird nicht damit getan sein, mehr Geld für das Gesundheitssystem, besseren Zugang zum Gesundheitssystem für alle oder höhere Löhne für Care-Worker aller Art zu fordern. Denn bleibt es bei diesen unbenommen wichtigen Forderungen, dann besteht die Gefahr, dass die Linke einem gesundheitspolitischen Etatismus verhaftet bliebe, der politisch sehr schnell kippen kann. Schließlich könnte man von bürgerlicher Seite mit Blick auf die öffentlichen (Post-) Corona-Stimmung geneigt sein, all diese Forderungen zu erfüllen, aber dafür im Gegenzug eine gesundheitspolitische Überwachung als wichtige Ergänzung gesellschaftlich einzufordern, indem man geschickt darauf verweist, dass nur so die Kosten kalkulierbar bleiben und Überlastungen des Gesundheitssystems noch effizienter als in der Corona-Krise zu managen sind. Nur ein Green Organizing mit dem Ziel eines basisdemokratischen Gesundheitswesens und der konsequenten Verknüpfung von ökologischen und medizinischen Kämpfen wäre hier eine radikal-emanzipative Alternative zu dieser dystopischen Entwicklung.     

Bei einem solchen Green Organizing gälte es zudem eine weitere Auffälligkeit der Corona-Krise aufmerksam zu durchdenken. Verdankte nämlich die klassische Arbeiterklasse einen großen Teil ihres politischen Selbstbewusstseins der im 19.Jahrhundert intensiv geführten öffentlichen Debatte um den Unterschied zwischen produktiven und nicht-produktiven Klassen sowie dessen Implikationen, dann hat die Covid-19-Krise eine ähnliche Debatte im 21.Jahrhundert provoziert. In der Corona-Pandemie geht es aber nicht mehr um die Frage, wer die tatsächlich wohlstandsproduzierende Klasse ist, sondern um die Erkenntnis, dass das Überleben im Katastrophen-Kapitalismus zusehends von biopolitisch essentiellen Klassen abhängt. Das immer schon einseitige, aber doch ungemein einflussreiche Zerrbild einer männlichen Industriearbeiterklasse als der eigentlichen Arbeiterklasse verschwindet somit im 21.Jahrhundert endgültig und es erscheint eine essentielle Klasse von Arbeitern auf der Bildfläche, die aus Care-Workern, Reinigungskräften, Beschäftigten im Einzelhandel und der Nahrungsmittelindustrie, landwirtschaftlichen Erntehelfern, Logistikarbeitern, Teilen des öffentlichen Dienstes wie Busfahrer, Straßenbahnfahrer, Müllabfuhr etc. besteht. Und löste sich der revolutionäre Elan der klassischen Arbeiterklasse zu Beginn des 20.Jahrhunderst in geschichtsphilosophischen Erwartungsperspektiven und abwartender Staatsgläubigkeit auf, dann hat das biopolitische Proletariat des 21.Jahrhunderts keine Ausweich-Optionen. Denn ohne radikale Veränderungen unserer sozialen Verhältnisse droht die Arbeit dieses Proletariats im Katastrophen-Kapitalismus zu einer anhaltend lebensgefährlichen Aufgabe zu werden. Dazu kommt: diese biopolitisch essentielle Klasse arbeitet ohne tiefgreifende soziale oder materielle Absicherung, da z.B. die Frauen dieser Klasse extremen Doppelbelastungen als Arbeiterinnen und Mütter aushalten müssen, die vielen Migranten oftmals ohne Arbeitsrechte und Gewerkschaften auszukommen haben, schlechte Arbeits- und Wohnbedingungen sowie niedrige Löhne zudem die Regel sind. Kann vor diesem Hintergrund ein Green Organizing womöglich einen Beitrag leisten, um aus den biopolitisch essentiellen Klassen auch sozial gefährliche Klassen zu machen?