Nachricht | Work in Progress VII. Incels. Geschichte, Sprache und Ideologie.

Wir begleiten die Autorin Veronika Kracher bei der Entstehung ihres Buches über Incels.

Kate Manne: Down Girl. The Logic of Misogyny. Cover der Englischen Originalausgabe.

Work in Progress: An dieser Stelle begleiten wir Veronika Kracher Woche für Woche bei der Entstehung ihres Buches und präsentieren Interviews und Textauszüge. 

Die Frankfurter Journalistin und Autorin Veronika Kracher arbeitet derzeit an einem Buch über Incels – unfreiwillig im Zölibat Lebende (»Involuntary Celibates«). Incels, so Kracher,  sind  Ausdruck einer Gesellschaft, in der die Abwertung des Weiblichen an der Tagesordnung ist. Sie treffen sich in Onlineforen und auf Imageboards und lamentieren darüber, keinen Sex zu haben, obwohl dieser ein natur- gegebenes männliches Grundrecht sei. Obwohl Incels schon zahlreiche Gewalt- und Terrorakte begangen haben, wurde das Phänomen gerade im deutschsprachigen Raum bisher nur sehr oberflächlich analysiert. Mit ihrem Buch, das die Geschichte der Bewegung nachzeichnet, die Memes und Sprache der Incels erklärt, ihre Ideologie analysiert und eine sozialpsychologische Auseinandersetzung mit diesem Online-Kult anstrebt, will Veronika Kracher diese Lücke füllen. 

Nachdem wir in der vergangenen Woche einen Auszug aus einem bereits fertig gestellten Kapitel präsentiert haben, sprechen wir in dieser Woche mit ihr über Misogynie und das Verhältnis von Patriarchat und Kapitalismus. 

Die Corona-Pandemie hat ja auch deutlich gemacht, dass es vor allem Frauen sind, die – meist schlecht bezahlt ­ in der Versorgung von Kranken und in der Pflege arbeiten. Ein Aspekt dessen, was du als den »patriarchal strukturierten Kapitalismus« umschrieben hast. Kate Manne spricht in »Down Girl. Die Logik der Misogynie« davon, diese sei ein Mittel, die »patriarchale Ordnung, verstanden als ein Strang unter diversen ähnlichen Herrschaftssystemen (Rassismus, Xenophobie, Klassendenken… ), aufrechtzuerhalten«. Wie hängt das zusammen: Die Logik der Misogynie und der Kapitalismus? 

Ich begreife Kapitalismus auf zwei Ebenen, die sich einander bedingen und gegenseitig reproduzieren: als Ideologie und als konkretes Herrschaftssystem, das auf Ausbeutung basiert. Im Kapitalismus existieren die männlich konnotierte Produktionssphäre, also Lohnarbeit, und die weiblich konnotierte Reproduktionssphäre, also Hausarbeit. Da Frauen inzwischen zunehmend auch berufstätig sind, aber immer noch ein Großteil der Hausarbeit leisten, sind sie nach der Soziologin Regine Becker-Schmidt von der sogenannten »doppelten Vergesellschaftung« betroffen. Einerseits werden sie als potentielle Produzentinnen von Mehrwert, also als Lohnarbeiterinnen ausgebeutet, andererseits als Frauen, die unbezahlte Reproduktionsarbeit leisten. Also: Hausarbeit, Kinderbetreuung, etc. Im patriarchal strukturierten Kapitalismus ist es selbstverständlich, dass Frauen das halt machen, ohne dafür bezahlt zu werden! Laut einer Studie der Stiftung Oxfam leisten Frauen und Mädchen weltweit jeden Tag mehr als zwölf Milliarden Stunden unbezahlter Arbeit. Würde man das selbst auch nur mit Mindestlohn zahlen, dann wären das über elf Billiarden (!!) US-Dollar im Jahr. Auch weiblich konnotierte Arbeit wie Pflegeberufe werden unterdurchschnittlich bezahlt. Das suggeriert: Reproduktionsarbeit ist a) weniger wert als, was weiß ich: an einem Auto herumschrauben, und b) etwas, was Männern selbstverständlich zusteht. So wird das, was Frauen permanent leisten, abgewertet, was wiederum dazu beiträgt, dass Frauen an sich abgewertet werden; gerade in einer Gesellschaft, in der Vermögen und sozialer Status so eng miteinander verknüpft sind. Manne schreibt auch, dass diese vermeintliche Selbstverständlichkeit von Care-Arbeit, die man schon von Müttern, Kindergärtnerinnen, etc. erfährt, dazu führt, dass Männer anschließend von Frauen erwarten, dass sie ihnen diese Zuwendungen entgegen bringen, und können es nicht ertragen, wenn das nicht der Fall ist. Dieses ganze System bedient patriarchale Bedürfnisse! 

Gleichzeitig sorgen immer noch präsente sexistische Stereotype über Frauen (wie: Frauen denken emotionaler als Männer) und männerbündische Strukturen in Betrieben dafür, dass die »gläserne Decke« weiter bestehen bleibt, also dass Frauen von Machtpositionen im Erwerbsleben ausgeschlossen bleiben. Noch immer sind Frauen in Führungspositionen unterrepräsentiert, gerade in großen Betrieben. Dies liegt daran, dass der Kapitalismus aus dem ebenfalls patriarchalen Feudalismus gewachsen ist, und Männer im Besitz der Produktionsmittel sind, und demzufolge auch über gesellschaftliche Herrschaft in Form von Kapital verfügen, was Frauen über Jahrhunderte hinweg verwehrt blieb (ein sehr lesenswerter Text dazu ist übrigens Heidi Hartmanns »Eine unglückliche Ehe«). Die Forderung von »mehr Frauen in Chefetagen« ist allerdings auch eine verkürzte, da das kapitalistische Ausbeutungsverhältnis ja nach wie vor bestehen bliebe, und proletarische Frauen nur mäßig davon profitieren, sich für eine Chefin statt einen Chef krumm ackern zu müssen.

Klaus Theweleit schreibt im Nachwort zu »Männerphantasien«: »So lange in der männlichen Imagination (egal welcher Länder) die Koppelung von ‚Keine-Arbeit-haben‘ und ‚Entmannt-Sein‘ die Körpervorstellungen dominiert, wird das giftige Alt-Öl sogenannter ‚Traditionen‘ noch lange die Rohre verranzen und weiter oben schwimmen auf den Wassern der gewünschten Evolution«. Damit spricht er ja einen verwandten Sachverhalt an: Solange das männliche Selbstbild in einem so hohen Maße mit der eigenen Arbeit verknüpft ist, bleibt auch die Überwindung der angstbesetzte Wahrnehmung der Körper des »anderen Geschlechts« durch die »soldatischen Männer« eine Utopie. Spielt dieses Selbstbild für Incels eine Rolle?

Incels sind durchaus Resultat dessen, was großflächig »Krise der Männlichkeit« genannt wird. Diese Krise ist darin zu verorten, dass traditionelle Vorstellungen von Männlichkeit – glücklicherweise – ins Wanken geraten; diese klassische »Mann als Versorger«-Rolle ist ja de facto so nicht mehr existent. Dies führt bei vielen Männern dazu, dass sie, anstatt diese Änderungen zu umarmen und anzuerkennen, wie toxisch diese Vorstellungen hegemonialer Männlichkeit auch ihnen selbst gegenüber sind, in tiefe Unsicherheiten verfallen. Das Wanken des Patriarchats erklärt man sich verschwörungsideologisch damit, dass der Feminismus, als auch neue Männlichkeitsvorstellungen, eine jüdisch-marxistische Erfindung seien, um letztendlich nichts geringeres als die Vernichtung der weißen Rasse zu erreichen. Maskulinisten, die diesem Wahnbild anhängen, sind der Ansicht, die Gesellschaft würde Männer verweichlichen und wollen sich wieder ein Bild traditioneller, soldatischer Männlichkeit zurück erobern; sie lesen Jack Donovan, haben »Fight Club« nicht verstanden und gerade deshalb zu ihrem Lieblingsfilm erklärt, haben die Jagd als Hobby entdeckt und wollen Frauen lediglich als Hausfrau und Mutter anerkennen. Incels sind jedoch der Ansicht, dass ihnen dieses Bild des soldatischen Mannes im Alltag gar nicht möglich ist, sie betrachten sich am unteren Ende der Männlichkeitskette, weit abgeschlagen vom männlichen Ideal. In einer Gesellschaft, die dermaßen »cucked« ist, und in der Frauen nur Chads begehren, ist die Rolle des Ernährers für Incels nicht vorgesehen; weshalb sie, anders als Männerrechtler, den Kampf um eine Rolle als patriarchales Familienoberhaupt schon zu Beginn verloren haben, und ihn gar nicht mehr ausfechten wollen. Das war früher, als die Welt noch nach dem Prinzip des »Looksmatching« aufgebaut war, also auch einem unattraktiven Mann eine Frau zustand, und unattraktive Frauen sich noch nicht ausschließlich Chads an den Hals warfen, anders, doch diese Zeiten sind inzwischen vorbei. Das ist natürlich dem Feminismus geschuldet. Incels kokettieren ja mit ihrem Versagerstatus, was meines Erachtens auch eine Form von Copingmechanismus ist. Dieser kann nur total aufgehoben werden, im Suizid oder im misogynen Terrorakt, der ja auch eine Form der Soldat-Werdung, und die einzige Form der Mannwerdung, die sich ein Incel vorstellen kann, ist.

Kate Manne sagt auch, misogyne Strukturen fänden sich quer durch alle gesellschaftlichen Schichten und Milieus, in unterschiedlichen Formen. Auch in ihrem eigenen, akademisch geprägten Umfeld, habe Misogynie die Funktion, »gesellschaftliche Rollen durchzusetzen und zu überwachen und moralische Güter und Ressourcen von Frauen zu bekommen«; Ressourcen wie Trost, Fürsorge, Pflege, Sex. Wie ist der soziale Background von Incels, gibt es dazu irgendwelche Daten? Und welche Rolle spielt dieser Background bei der Begründung der eigenen Ideologie?

Obwohl Incels mit ihrem »Loserstatus« kokettieren, handelt es sich bei ihnen mitnichten ausnahmslos um irgendwelche dicken Nerds, die mit Mitte 30 im Keller ihrer Eltern leben und nicht arbeiten. Laut einer Umfrage auf Incels.co vom Oktober 2019 sind drei Viertel der Befragten entweder berufstätig oder Schüler/Studenten. Die Hälfte der User gibt an, eine »positive« oder »neutrale« Kindheit gehabt zu haben, auch pflegt die Hälfte der User nach Selbstangaben freundschaftliche Beziehungen. 59 Prozent der User zählt sich zur Mittelklasse, während 34 Prozent sich zum Proletariat, und der Rest zur Bourgeoisie zählt (auch wenn Incels andere als marxistische Termini verwenden). 69 Prozent der User geben an, bei ihren Eltern zu wohnen, aber der Großteil der User sind auch unter 25 Jahre alt: die Gruppe der 18 bis 21jähigen macht mit 31,3 Prozent den größten Anteil aus. Kurz: Incels sind ein Querschnitt durch die komplette Gesellschaft, gerade auch weil Misogynie sich überall findet. Es ist mitnichten so, als sei Incel-Denke ein Problem bestimmter Milieus, toxische Männlichkeit ist omnipräsent, auch wenn sie in unterschiedlichen Formen auftritt  Elliot Rodger wuchs übrigens in ausgesprochen privilegierten Verhältnissen auf.

Die »Incel Rebellion«, von der du im Zusammenhang mit Corona gesprochen hat, was genau muss man sich darunter vorstellen? Dass alle Incels gemeinsam losschlagen? Um was genau zu tun?

Der Attentäter von Toronto, Alek Minassian, schrieb kurz bevor er mit einem Sprinter in eine Menschenmenge raste auf Facebook »The Incel Rebellion has already begun! We will overthrow all the Chads and Stacys!« In seiner Vernehmung mit der Polizei erklärt Minassian: »Es ist quasi eine Bewegung wütender Incels wie ich einer bin, die nicht in der Lage sind Sex zu haben, und deshalb wollen wir die Chads stürzen, was Stacys dazu zwingen würde sich mit Incels zu paaren«. Es geht, laut Minassian, darum »bestimmte Angriffe auf die Gesellschaft zu verüben, mit dem Ziel, an deren Grundgerüst zu rütteln, und alle Normies in Panik zu versetzen« – damit gleichen sie den rechtsterroristischen Akzelerationisten. Diese wollen durch Terrorakte die Gesellschaft in Chaos stürzen und anschließend einen Bürgerkrieg anzetteln, um im Zuge dessen einen faschistischen, weißen Ethnostaat zu etablieren. Ähnlich bei Incels: es geht, schlicht und ergreifend darum, Attentate zu verüben und die als zu feministisch und liberal wahr genommene Gesellschaft regressiv aufzuheben. Anschließend soll eine Incel-Idealgesellschaft aufgebaut werden, in der Frauen nichts anderes sind als rechtlose Objekte, über die man sexuell verfügen kann. Elliot Rodger wollte Frauen sogar ganz vernichten; er schrieb von »Konzentrationslagern«. Ein paar müssten allerdings in geheimen Untergrund-Bunkern gefangen gehalten werden, um Kinder zu gebären (selbstverständlich würde man jedoch nur Söhnen ein Leben in Elliot Rodgers Idealwelt gestatten, Frauen dürften würden durch ihre Sexualität diese homophile Idylle nur stören). Die Incel-Rebellion ist ein Kampf gegen die Moderne und all ihre Bedrohungen, allen voran eben Frauen, von denen man sich derart verfolgt fühlt, dass man dieser Bedrohung nur mit Vernichtung begegnen kann.