Nachricht | Work in Progress I: Incels. Geschichte, Sprache und Ideologie

Wir begleiten die Autorin Veronika Kracher bei der Entstehung ihres Buches über Incels.

Bild: Veronika Kracher

Work in Progress: An dieser Stelle begleiten wir Veronika Kracher Woche für Woche bei der Entstehung ihres Buches und präsentieren Interviews und Textauszüge. 

Die Frankfurter Journalistin und Autorin Veronika Kracher arbeitet derzeit an einem Buch über Incels – unfreiwillig im Zölibat Lebende (»Involuntary Celibates«). Incels, so Kracher,  sind  Ausdruck einer Gesellschaft, in der die Abwertung des Weiblichen an der Tagesordnung ist. Sie treffen sich in Onlineforen und auf Imageboards und lamentieren darüber, keinen Sex zu haben, obwohl dieser ein natur- gegebenes männliches Grundrecht sei. Obwohl Incels schon zahlreiche Gewalt- und Terrorakte begangen haben, wurde das Phänomen gerade im deutschsprachigen Raum bisher nur sehr oberflächlich analysiert. Mit ihrem Buch, das die Geschichte der Bewegung nachzeichnet, die Memes und Sprache der Incels erklärt, ihre Ideologie analysiert und eine sozialpsychologische Auseinandersetzung mit diesem Online-Kult anstrebt, will Veronika Kracher diese Lücke füllen. 

Kracher wurde 1990 in München geboren, beschäftigt sich mit der Incel-Subkultur, der Alt-Right, Imageboards wie 4chan und Rechtsterrorismus. Weitere Forschungsschwerpunkte sind Feminismus und Patriarchatskritik, Antisemitismus, Literaturtheorie und Popkultur. Wenn sie sich nicht gerade durch die Sümpfe toxischer Online-Kulturen wühlt, guckt sie Horrorfilme, liest Romane von Gisela Elsner, spielt Video- und Pen-and-Paper-Rollenspiele, besucht Postpunk-Konzerte und trinkt Wein.

Veronika, du arbeitest derzeit an einem Buch über Incels. Wie würdest du in aller Kürze Menschen das Phänomen Incels erklären, die noch nie davon gehört haben? 

Veronika Kracher: Incel ist die Kurzform für »Involuntary Celibate«, also »Unfreiwillig im Zölibat Lebende«. Sie sind Anhänger der sogenannten »Blackpill«-Ideologie. Diese besagt, dass die attraktivsten 20 Prozent der männlichen Bevölkerung, sogenannte »Chads«, die sexuelle Verfügung über ALLE Frauen haben. Frauen sind dieser Ideologie nach allesamt hypergame und oberflächliche Schlampen, die ihre Zeit so gut wie ausschließlich damit verbringen, »das Schwanzkarussell zu reiten« und Sex mit Chads zu haben. Weniger attraktive Männer kriegen keine Frauen und keinen Sex ab. In der Vorstellung von Incels ist Sex jedoch ein Grundrecht, wie Nahrung oder Obdach ein Grundrecht sind; und Frauen entziehen Incels dieses Recht, da sie niemals auf die Idee kämen, mit einem Mann zu schlafen, der nicht aussieht wie Ryan Gosling. Incels betrachten sich als die unattraktivsten Männer überhaupt – sie befassen sich geradezu obsessiv mit ihrem eigenen Aussehen, als auch ihrem Hass auf Frauen. Für die entsetzliche Kränkung, dass Frauen keinen Sex mit Incels haben, müssen sie bestraft werden; was bis im misogynen Terrorakt münden kann.

Wann hast du Incels zum ersten Mal bewusst wahrgenommen? Und wann hast du entschieden, ein Buch darüber zu verfassen?

Veronika Kracher: Das erste Mal stieß ich 2014 auf das Phänomen, als der 22 Jahre alte Elliot Rodger auf dem Campus der Santa Barbara Universität in Isla Vista, Kalifornien, sechs Menschen ermordete und 14 weitere verletzte. Er hatte ein Manifest hinterlassen, in dem er begründete, dass er sich an Frauen rächen wollte, da sie ihm Zeit seines Lebens »Liebe und Sex entzogen hatten«. Um 2016 herum begann ich mich dann intensiver mit der Alt-Right zu befassen, und stieß bei meiner Recherche vermehrt auf Postings von Incels. Nach dem Terrorangriff des Incels Alek Minassian 2018 in Toronto erkannte ich, dass ich um eine intensive Auseinandersetzung mit dem Thema nicht herum komme.

Mit dem Gedanken ein Buch über Incels zu schreiben spiele ich seit Mitte 2019. Ende 2019 erhielt ich dann, ausgehend von meinen Analysen zu dem Terroranschlag in Halle, eine Anfrage, ob ich nicht ein Buch zu dem Thema verfassen wollte. 

Warum ist das Thema in Deutschland bislang so vernachlässigt worden? 

Veronika Kracher: Ich kann mir zwei Gründe vorstellen: erstens, weil die deutschen Behörden in Sachen Internet ohnehin ein gutes Stück hinterher sind. Sowohl Neonazis als auch Incels haben große Online-Strukturen, die als Propaganda-Werkzeug genutzt werden. Auf Foren und Imageboards wie 4chan, oder auf Chatservern wie Discord, als auch auf der Videospielplattform Steam entstehen extrem toxische Echokammern, in denen gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit verbreitet wird. Viele PolizistInnen wissen nicht einmal, was 4chan ist; wie sollen sie dann noch extremere Seiten wie das rechtsradikale Trollforum »Kiwifarms« oder spezielle Incel-Foren wie incels.co kennen? In den USA ist man da zum Glück schon weiter.

Zweitens spielt meines Erachtens auch das mangelnde Bewusstsein in Bezug auf misogyne Gewalt und toxische Männlichkeit als solches eine Rolle. Körperliche sexuelle Belästigung ist in Deutschland erst seit 2017 Strafdelikt, verbale sexuelle Belästigung ist keins. Femizide werden nicht als explizit misogyne Straftat erkannt, und von der Presse als »Familiendrama« verharmlost. Sexuelle Gewalt wird selten verurteilt. Auch die Strukturen in der Polizei selbst sind oft sexistisch; wer zum Beispiel erfahrene sexuelle Gewalt zur Anzeige bringen will, sieht sich auf der Wache oft mit Zweifeln oder Stigmatisierung konfrontiert. Auch bringt die deutsche Gesellschaft Tätern immer noch Verständnis entgegen – »Der arme Mann konnte ja nicht anders als gewalttätig zu werden!« – während man Opfern die Schuld in die Schuhe schiebt. Es ist zwingend notwendig, die sogenannte »Rape Culture« als solche zu hinterfragen. Das bedeutet: Jungen zu mündigen Subjekten erziehen, die ihre Männlichkeit nicht über die Abwertung von Frauen oder queeren Menschen konstituieren, eine Kritik an der Sexindustrie, die suggeriert, dass man einen Recht auf den weiblichen Körper hat, und dieser auch immer zur Verfügung steht – viele Incels, aber auch viele Männer generell, haben Sexfantasien, die direkt aus gewalttätigen Pornos stammen, die sie schon von der frühen Adoleszenz an konsumieren – und einen Kampf gegen die patriarchal strukturierte Gesellschaft generell.

Was ist neben dem Hass auf Frauen zentral für das Weltbild von Incels?

Veronika Kracher: Hass auf sich selbst, Nihilismus, Fatalismus, und eine obsessive Beschäftigung sowohl mit dem eigenen Aussehen als auch Sexualität. Die Blackpill-Ideologie besagt, dass das Leben als unattraktiver Mann das schlimmste Schicksal ist, was man erleiden kann. Man macht sich komplett davon abhängig, weibliche Aufmerksamkeit und sexuelle Zuneigung erfahren zu wollen, lehnt diese jedoch gleichermaßen ab, da man für alle Frauen, die nicht dem verkorksten Incel-Ideal –minderjährig und submissiv – entsprechen, nur Verachtung übrig hat. In der Vorstellung von Incels werden sie von der kompletten Gesellschaft für ihr vermeintlich unattraktives Äußeres verhöhnt und gehasst – die Incel-Vorstellungen von Attraktivität sind jedoch vollkommen verzerrt; die meisten von ihnen sehen aus wie ganz normale junge Männer! Aber schon eine Körpergröße von 1,70 oder zurückgehendes Haar bedeutet für Incels, dass ihnen Dating-Erfolg für immer verwehrt bleiben wird. So vergraben sie sich in einen bequemen Fatalismus: Frauen sind oberflächliche Schlampen und hassen mich, weil ich hässlich bin, also muss ich mich nicht darum bemühen, an mir zu arbeiten. Für Incels ist eine Welt ohne Sex und weibliche Aufmerksamkeit eine verlorene Welt, die man guten Gewissens hassen kann. In den Echokammern ihrer Foren suhlen sie sich masochistisch in ihrem Weltbild: sie malen sich das Sexleben anderer aus, um sich selbst damit zu geißeln, keinen Sex zu haben, und schreiben darüber, dass man sich als unattraktiver Mann direkt das Leben nehmen könnte. Es ist nicht verwunderlich, dass diese Ideologie psychisch krank macht: 90 Prozent der User des incels.co-Forums geben in einer Umfrage an, unter Depressionen zu leiden. Die Incel-Ideologie fügt ihren Anhängern tiefgreifende psychische Schäden zu, sie ist sowohl gegen Frauen als auch gegen Incels selbst gewalttätig.